In der Nikolauswoche 1992 stimmte die SPD für einen desaströsen Asylkompromiss. Nun wird Olaf Scholz zum Bundeskanzler gewählt und es stellt sich die Frage: Beginnt das Ende eines jahrzehntelangen Irrwegs?

Von Heribert Prantl

Olaf Scholz wird in ein paar Tagen, mitten in der Nikolaus-Woche, zum Bundeskanzler gewählt. Ob dieser Zeitpunkt etwas bedeutet? Der heilige Bischof Nikolaus war ein sprichwörtlich braver Mann, über den es viele Legenden gibt. Er soll, zum Beispiel, Seeleute aus Todesgefahr gerettet haben, in dem er den tobenden Sturm stillte. Deswegen wurden früher Schiffchen aus Papier vor die Tür gestellt, nicht Stiefel. Der heilige Nikolaus soll aber auch, es war auf dem Konzil von Nicäa, seinen theologischen Widersacher Arius heftig am Bart gezogen und ihm eine gescheuert haben. Ob sich Olaf Scholz da was abschaut?

Weil sich diese Frage heute noch nicht beantworten lässt, schildere ich Ihnen meine bisherigen Nikolaus-Erlebnisse. Ich bin in diesen Adventstagen ein wenig in Plauderlaune. Der heutige Newsletter enthält zwar, wie immer, hart Politisches; daneben auch viel Anekdotisches – und damit fange ich an.

Die Nikolaus-Tage habe ich selbst erst als Opfer, dann als Täter und schließlich als Journalist erlebt. Der Nikolaus meiner frühen Kindheit war ein Hauptfeldwebel im Bischofsgewand, der in den Kindergarten wie in eine Kaserne stampfte. Er sprach ziemlich barsch und drohte, uns in den Sack zu stecken; zur Warnung hatte er schon einen um seine Schulter geworfen, aus dem zwei Kinderbeine hingen. Meine Freunde und ich, die wir diesen heiligen Unhold schon vom Hörensagen kannten, hatten an diesem Tag ein Taschenmesser in der Hosentasche, um, wie wir uns gegenseitig versicherten, notfalls den Sack aufzuschneiden.

Nachdem dieser Auftritt glimpflich vorbeigegangen war, kam dann am Abend, weniger martialisch, der als heiliger Nikolaus schön verkleidete Onkel Michael zu mir nach Hause; mein kleiner Bruder durfte den goldenen Stab halten, ich musste meinen Schulranzen auf dem Boden ausleeren und versprechen, ihn künftig ordentlicher einzuräumen.

Die Sache mit dem Hirschgeweih

Später war ich dann selber ein prächtig gewandeter Nikolaus und versuchte, mit den Kindern so umzugehen, wie ich mir das 15 Jahre früher selber gewünscht hatte. Das ist mir oft, aber nicht immer gelungen. Einmal, da war ich so neunzehn, habe ich einen Neffen, der mir vorhielt, ich sei gar nicht der Nikolaus, sondern „der Onkel Heribert“, für ein paar Augenblicke mit den Hosenträgern seiner Lederhose an ein Hirschgeweih gehängt, das im Wohnzimmer an die Wand gedübelt war. Für so was geniert man sich heute sehr. Aus dem Jungen ist dann trotzdem ein sehr erfolgreicher mittelständischer Unternehmer geworden. Aber die Sache mit dem Hirschgeweih hat er mir bis heute nicht ganz verziehen.

Der Nikolausmantel war womöglich eine Vorbereitung auf die Juristen-Robe, die ich dann wenig später anzog – erst als Rechtsanwalt, dann als Richter und Staatsanwalt. Besondere Nikolaus-Erlebnisse verbinden sich damit aber nicht. Die stellten sich erst dann wieder ein, als ich schon Journalist und Leitartikler bei der SZ war; dazu weiter unten in diesem Letter.

Die buntesten und nachdrücklichsten Nikolauserlebnisse stammen aus meiner Studentenzeit. Seitdem ist Nikolaus für mich ein Fest, das nicht nur nach Lebkuchen und Glühwein riecht; in meiner Erinnerung riecht und schmeckt es auch nach Gockerl. So heißt bei mir zu Hause in der Oberpfalz das Brathähnchen. Gewiss: So ein Brathähnchen mit Pommes passt eigentlich eher zum Oktoberfest. Aber es war in meinen Studentenjahren, nach getaner Arbeit, die Belohnung für den heiligen Einsatz. Dieser Einsatz bestand darin, im Rahmen der „Nikolausaktion“ des örtlichen Kolpingvereins bei den Familien vorstellig zu werden, die sich den Besuch des Nikolauses, begleitet vom Knecht Ruprecht, erbeten hatten – und dann bei diesen Besuchen zu verkünden, dass man „von drauß‘ vom Walde“ herkomme, dass es weihnachte und dass man gesehen habe, wie auf den Tannenspitzen die goldenen Lichtlein sitzen.

In ihrer Urfassung stammen die Zeilen vom Schriftsteller Theodor Storm, also aus dem 19. Jahrhundert; wir haben das Gedicht damals ein wenig umgedichtet und auf die jeweiligen Familienverhältnisse angepasst. Manchmal wartete eine ganze Großfamilie im Wohnzimmer vor dem großen Plätzchenteller schon singend und wohlvorbereitet auf unsere Ankunft; im Flur steckte man uns einen Zettel zu, auf dem Lob und Tadel für die Kinder des Hauses notiert waren, den man dann ins „Goldene Buch“ legte.

Manchmal freilich wartete nicht eine festlich gestimmte Gesellschaft auf uns, sondern nur Mutter oder Großmutter mit einem ängstlich-neugierigen Kind in wenig heimeliger Atmosphäre; der Nikolaus musste den Vater erst vom Fernseher und der Bierflache wegholen; und der Knecht Ruprecht musste aufpassen, dass es dabei nicht zu einem Gerangel kam mit dem mürrisch-verlegenen Mann. Oft waren die Szenerien von anrührender Herzlichkeit, manchmal von herzzerreißender Komik; bisweilen hätte man meinen können, Loriot habe sie inszeniert. Wäre ich damals nicht ein Jura-, sondern ein Pädagogik-Student gewesen, ich hätte eine Seminararbeit geschrieben über „Sozial-familiäre Strukturen, Beziehungen und Verhaltensweisen, dargelegt am Beispiel von Nikolausbesuchen“.

Klostergewänder und Feuerwehrmäntel

Diese Besuche zu organisieren und die Logistik dafür zu entwickeln, war eine Herausforderung, der sich mein Vater, der ein ebenso leutseliger wie akkurater Mensch war, mit Begeisterung stellte; er war nämlich der Vorstand des Kolpingvereins in Nittenau/Oberpfalz – und die Nikolausaktion war ein Höhepunkt im Vereinsjahr und der Erlös des Ganzen für einen guten Zweck. Internet gab es noch nicht und damit auch keine Online-Anmeldungen; also klingelte bei ihm das Telefon schon im November schier unablässig. Es waren dann an die hundert Familien zu besuchen, was nur dadurch zu bewältigen war, dass mehrere Nikolauspaare eingekleidet wurden – die heiligen Nikoläuse mit Gewändern, die in einem alten Kloster aussortiert worden waren, und die Knecht Ruprechte mit alten Fellmänteln, die ansonsten in eisigen Nächten die Feuerwehrleute bei der Brandwache wärmten. Und wenn die Nikoläuse und ihre Ruprechte dann von ihrer Tour zurückkamen, gab es die schon erwähnten Brathähnchen – und es begann das große Erzählen. Es waren die schönsten, die nikolausigsten Tage in meinem Leben.

Meine journalistischen Nikolaustage waren und sind von ganz anderer Art. An einem Nikolaustag, dem Nikolaustag des Jahres 1992, wurde einer der schandbarsten Kompromisse der bundesdeutschen Geschichte geschlossen; dieser Kompromiss wird, wegen des Tages, an dem er beschlossen wurde, „Nikolaus-Kompromiss“ genannt. Das klingt nach guten Gaben, nach Punsch und Besinnlichkeit. Doch dieser Beschluss der Fraktionsvorsitzenden von CDU/CSU, SPD und FDP war weder gut noch besinnlich.

Er postulierte das Ende des alten Asylgrundrechts; er strich den Artikel 16 Absatz 2 aus dem Grundgesetz, der das Asylrecht seit dem Jahr 1949 uneingeschränkt garantiert hatte; man ersetzte ihn durch einen sehr langen, sehr verquollenen Artikel 16a, der aus dem Asylgrundrecht ein Grundrechtlein machte. Ich habe ebenso oft wie vergeblich gegen diese Untat angeschrieben.

Erst stirbt das Recht, dann stirbt der Mensch

Die Grundgesetz-Änderungen waren die politische Reaktion auf die ausländerfeindlichen Pogrome in Mölln und Rostock-Lichtenhagen, diese Änderungen wurden sozusagen im Schein der dort angezündeten Häuser geschrieben: Die Parteien hatten sich des Terrors gegen Ausländer und Flüchtlinge nicht anders zu erwehren gewusst als mit der Änderung des schon lang von der Politik verketzerten Grundrechts. Den terrorisierten Flüchtlingen wurde, um sie angeblich zu schützen vor den dadurch vermeintlich besänftigten Flüchtlingshassern, der grundrechtliche Schutz entzogen. An dem Tag, an dem dies beschlossen wurde, demonstrierten in München 400 000 Menschen gegen den Ausländerhass – die Münchner Lichterkette war die erste große Lichterkette in der Demonstrationsgeschichte der Bundesrepublik.

Der Anti-Asyl-Kurs mündete in der Änderung des Asylgrundrechts mit Zweidrittelmehrheit im Bundestag – am 26. Mai 1993, drei Tage vor den Solinger Morden. Am 29. Mai 1993 kamen bei einem rassistischen Brandanschlag auf das Haus der Familie Genc in Solingen-Mitte fünf Menschen türkischer Abstammung ums Leben; 17 Menschen erlitten zum Teil schwerste Verletzungen. Auf dem Weg zum Tatort in Solingen las Heiko Kauffmann, der damalige Vorsitzende von Pro Asyl, den dort auf eine Hausmauer gesprühten Satz: „Erst stirbt das Recht, dann stirbt der Mensch.“

Die SPD wollte damals ein Einwanderungsgesetz als Gegenleistung für ihre Zustimmung zur Asylgrundrechtsänderung haben. Es wurde freilich in dem zwischen CDU/CSU und SPD formulierten Asylkompromiss nur in völlig unverbindlicher Form erwähnt. Es kam bis zum heutigen Tag nicht zustande.

Olaf Scholz stand zu dieser Zeit ganz am Beginn seiner politischen Laufbahn, er schickte sich an, SPD-Vorsitzender von Hamburg-Altona zu werden. Günter Grass war damals aus Protest gegen das Einknicken der SPD in der Asylpolitik – erst war es Oskar Lafontaine, dann auch Gerhard Schröder – aus der Partei ausgetreten. Aber Olaf Scholz traf sich immer wieder mit Grass, auch auf öffentlicher Bühne. Ob in der Politik eine Verbindung von Pragmatismus und Visionen gelingen könnte, wollte der Jungpolitiker Olaf Scholz damals von Grass wissen. Und der antwortete mit Verweis auf Willy Brandt. Jetzt wird sich zeigen, ob Scholz davon was behalten hat.

Späte Buße

Im Koalitionsvertrag hat die SPD immerhin versucht, späte Buße zu leisten für die Zustimmung der Partei zum schandbaren Asylkompromiss. Unter der Verhandlungsführung des niedersächsischen SPD-Innenministers Boris Pistorius hat sie im Koalitionsvertrag flüchtlingsfreundliche Korrekturen im Asylrecht angekündigt und zusammen mit den Grünen und der FDP in den Koalitionsvertrag geschrieben. Und im Koalitionsvertrag ist jetzt, fast dreißig Jahre später, ein Einwanderungsrecht vorgesehen.

In der Nikolauswoche 1992 sind die furchtbaren Fehler der Ausländer- und Asylpolitik ins Werk gesetzt worden. In der Nikolauswoche 2021, mit der Wahl des neuen Bundeskanzlers, beginnt hoffentlich das Ende des jahrzehntelangen Irrwegs.

 


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