… aber wer kann ihn aufhören und beenden, wie wird wieder Frieden? Von der Kuba-Krise, die vor sechzig Jahren schwelte, zum Ukraine-Krieg.

Von Heribert Prantl

Vor sechzig Jahren, genau in diesen Oktobertagen, stand die Welt an der Schwelle zum Atomkrieg. Die Kuba-Krise entwickelte sich zur Katastrophe. Die UdSSR hatte Atomraketen auf Kuba stationiert, US-Präsident John F. Kennedy geriet unter massiven internen und öffentlichen Druck: Seine Berater forderten eine US-Invasion auf Kuba, die Presse propagierte den Regime-Change in Havanna.

Mit dem sowjetischen Diktator Nikita Chruschtschow und seinem Genossen Castro in Havanna könne und dürfe es keine Verständigung geben hieß es; die Kommunisten verstünden nur eine Sprache, die Sprache der Waffen nämlich. Chruschtschow und sein Außenminister müssten für ihre atomare Erpressungspolitik und für ihre dreisten Lügen büßen und bestraft werden.

Kennedy verhängte eine Seeblockade über die Insel Kuba, versetzte die US-Atomraketen und Langstreckenbomber in den höchsten Alarmzustand unterhalb der Schwelle eines Atomkriegs, er warnte und drohte und drohte und warnte – und ließ seinen Bruder Robert höchst vertraulich mit den Sowjets verhandeln.

Die Gefahr wurde damals, in den Zeiten von Chruschtschow und Kennedy, durch „verantwortungsbewusste Kaltblütigkeit“ beigelegt, wie das später Willy Brandt in seiner berühmten Osloer Nobelpreisrede vom 11. Dezember 1971 sagte. Das war nicht nur Ergebnis von US-Drohungen, sondern von intensiver Geheimdiplomatie. Chruschtschow entfernte seine Atomraketen auf Kuba. Die USA verzichteten auf eine Invasion auf der Insel und zogen ihre in der Türkei und Italien stationierten Atomraketen ab – wovon die die Öffentlichkeit aber nicht unterrichtet wurde.

Der Hamburger Historiker, Politikwissenschaftler und Amerikanist Bernd Greiner hat das in seinem Buch „Kuba-Krise“ exzellent und atemberaubend analysiert. Auf 129 Seiten schildert er, wie damals Einschüchterung und Erpressung, Abschreckung, Bluff und Vabanque funktionierten. „Was sich im Oktober 1962 abspielte, hatte die Welt nach 1945 noch nicht erlebt. Und zu ihrem Glück ist Ähnliches seither ausgeblieben“: So beginnt die Einleitung der Abhandlung, die 2010 in der ersten und 2015 in der zweiten Auflage im Verlag C.H. Beck erschienen ist. Die dritte Auflage wird davon, dass „Ähnliches seither ausgeblieben“ ist, nicht mehr reden können. Der Ukraine-Krieg kann sich noch sehr viel gefährlicher und katastrophaler entwickeln als die Kuba-Krise.

Drei Kriege

Um diese Gefährlichkeit zu begreifen, kann man Bert Brecht und seinen berühmten Satz aus dem Jahr 1951 zitieren, mit dem er damals in seinem „Offenen Brief an die deutschen Künstler und Schriftsteller“ vor der Remilitarisierung der Bundesrepublik gewarnt hat: „Das große Karthago führte drei Kriege. Es war noch mächtig nach dem ersten, noch bewohnbar nach dem zweiten. Es war nicht mehr auffindbar nach dem dritten.“ Das klingt agitatorisch, stimmt aber – und im Ernst der Lage ist Agitation besser als Apathie: Europa erginge es in einem dritten Weltkrieg wie Karthago.

Man kann es aber auch nüchterner sagen, wie dies der Physiker und Friedensforscher Carl Friedrich von Weizsäcker getan hat: „Die großen Bomben erfüllen ihren Zweck, den Frieden und die Freiheit zu schützen, nur, wenn sie nie fallen. Sie erfüllen diesen Zweck auch nicht, wenn jedermann weiß, dass sie nie fallen werden. Eben deshalb besteht die Gefahr, dass sie eines Tages wirklich fallen werden.“

Dass dieser Tag ein Tag im Ukraine-Krieg sein könnte – diese Befürchtung entspringt keinem katastrophischen, sondern einem realistischen Geschichtsdenken. Bernd Greiner hat vor Kurzem in einem Aufsatz in den Blättern für deutsche und internationale Politik die Mahnung Weizsäckers um einen Nachsatz ergänzt: „Abschreckung fußt auf Voraussetzungen, die niemand kontrollieren kann.“

Putin agiert irrationaler als einst Chruschtschow

Diese Unkontrollierbarkeit ist es, die in den Zeiten des Ukraine-Kriegs für galoppierende Unruhe sorgt – zumal Putin viel irrationaler agiert als seinerzeit Chruschtschow. Dessen Unbeherrschtheit, wie er sie 1960 bei seinem berühmten Auftritt mit ausgezogenem Schuh in der Generalversammlung der Vereinten Nationen vorführte, war eine inszenierte Unbeherrschtheit. Chruschtschow war ein Realist, der seinem Politbüro den Raketenabzug auf Kuba wie folgt erläuterte: „Jeder Trottel kann einen Krieg anfangen, und wenn er es einmal gemacht hat, sind selbst die Klügsten hilflos, ihn zu beenden – besonders, wenn es ein atomarer Krieg ist.“

Der Satz, Greiner zitiert ihn in seinem Buch über die Kuba-Krise, liest sich wie ein posthumer Kommentar Chruschtschows über seinen Nachfolger Putin. Und Kennedy wird mit dem Satz zitiert, der seine Lehre aus der Kuba-Krise darstellt: Die Führer von Nuklearmächten dürften sich nicht in eine Lage bringen, „dass es nur noch die Wahl zwischen Demütigung und Atomkrieg gibt“.

Man wünscht sich heute so viel Realismus und Beherrschtheit, wie ihn die Protagonisten damals hatten; in den Worten von Willy Brandt: „verantwortungsbewusste Kaltblütigkeit“. Und man wünscht sich, dass anstelle der kommunikativen Brandbeschleunigung, die die Gegenwart kennzeichnet, eine kommunikative Beschleunigung von Friedensbemühungen tritt. Man wünscht sich, dass es heute Diplomaten gibt wie Alvise Contarini, der als „weltweiser Venezianer“, wie ihn Golo Mann nannte, mit mühseligsten Verhandlungen den Dreißigjährigen Krieg beendete. Der Westfälische Friede von 1648 gilt als sein Werk. Im kommenden Jahr begehen wir sein 375. Jubiläum.


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