In der Corona-Krise werden oft apokalyptische Szenarien, Panikmache und Diffamierungen verwendet. Doch sie sind hoffnungslos, weil sie Beziehungen vergiften – und den Willen zur Zukunft brechen.
Von Heribert Prantl
„Hoffnung ist ein rares Gut geworden.“ Dieser klagende Satz stammt nicht von Karl Lauterbach und nicht von Christian Drosten; der Politiker und der Mediziner verstehen sich als sachliche Mahner und Warner. Sie sind mit ihren wissenschaftlichen Hypothesen und Prognosen manchmal auch große Angstmacher. Sie unterschätzen die Notwendigkeit der Hoffnung. Mit Hoffnung meine ich freilich nicht Leugnung der Gefahr, nicht Illusion; mit Hoffnung meine ich nicht den rheinischen Optimismus, der sagt „Et hätt noch immer jot jejange.“ Ich meine damit eine Kraft im Innern der Menschen und im Innern unserer Gesellschaft, die wir in Großkrisen unbedingt brauchen, um zu bestehen und sie zu überwinden. Inmitten der Krankheit, inmitten des Leidens macht die Hoffnung den Menschen größer als die Angst. Hoffnung hilft, die Dinge nicht nur zu ertragen, sondern auch zu tragen, auch die eigentlich unerträglichen. Hoffnung ist ein Booster, dessen Kraft manche Virologen und Modellierer unterschätzen; deshalb achten sie bei ihrem Reden zu wenig darauf.
Die Welt, die aus vielen Wunden blutet
Der Satz von der Hoffnung, die „ein rares Gut geworden“ ist, stammt von Annette Kurschus. Sie kennen den Namen vielleicht noch gar nicht; Sie werden ihn künftig öfter hören: Annette Kurschus ist soeben zur Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland gewählt worden. Sie ist also die Nachfolgerin von Heinrich Bedford-Strohm, der das Amt des EKD-Ratsvorsitzenden zehn Jahre lang präsidial, klug und stets freundlich lächelnd ausgeübt hat. Annette Kurschus (sie ist auch „Präses“, also Bischöfin, der westfälischen Landeskirche) kann gescheit und gewinnend reden; und wenn sie einen Satz sagt wie den, dass die Hoffnung ein „rares Gut“ geworden sei, hat sie einen blitzenden Blick, der zeigt, dass sie selbst nicht hoffnungslos ist – auch nicht „in einer Welt, die aus so vielen Wunden blutet und ihre Verletzlichkeit gerade auf eine nie gekannte Weise zeigt“. Das Wort „Corona“ kam nicht vor in ihrer Antrittsrede in Bremen, aber jeder wusste, dass das Virus zu diesen vielen Wunden zählt.
Wo die Entscheidungen fallen müssen
Es ist wohltuend, wenn da eine nicht tut, als habe sie die Corona-Wahrheit mit Löffeln gefressen. Es ist wohltuend, wenn da eine oder einer nicht so tut, als wisse sie oder er ganz genau, dass alles und was alles falsch gelaufen ist und wo man „falsch abgebogen“ sei – und was jetzt zu tun sei. Das alles kann und weiß nur Markus Söder, der jetzt wieder, wie vor einem halben Jahr, markige Sprüche macht; sie sollen vergessen lassen, dass die Infektionszahlen in seinem Bundesland Bayern besonders hoch sind. Und daran ist nicht die künftige Bundesregierung schuld, weil sie die „epidemische Lage von nationaler Tragweite“ am 24. November auslaufen lassen will – was Söder kräftig geißelt. Aber das bedeutet ja nicht, wie Söder suggeriert, dass die künftige Bundesregierung den Ernst der Lage nicht erkennt oder etwa gar die Pandemie für beendet erklärt. Das bedeutet in erster Linie, dass der Bundestag wieder in sein Recht gesetzt wird und die Entscheidungen wieder dort fallen, wo sie hingehören: ins Parlament.
Das Impfen und die Impfpflicht
Söder hat eine Neigung zu katastrophischem Denken und macht damit den Leuten Angst. Auch der sächsische Ministerpräsident Kretschmer tut das, wenn er davon redet, dass die Welle, „die wir vor uns haben … alle bisherigen Wellen in den Schatten stellen“ wird. Angst ist ein schlechter Ratgeber. Mit dem Schüren von Angst, der Beschimpfung der Ungeimpften (denen Frank Ulrich Montgomery, der Ehrenpräsident der Bundesärztekammer, „Tyrannei“ vorgeworfen hat) macht man nichts besser. Wie steht es mit einer Impfpflicht, jedenfalls für bestimmte Berufsgruppen? Wie steht es mit einer generellen Impfpflicht? Ich habe letztere, aus guten Gründen, wie ich meine, stets abgelehnt – unter anderem deswegen, weil so ein Impfzwang viele Impfzögerer und Impfskeptiker in die Impfverweigerung treiben könnte. Eine Impfpflicht setzt sich ja nicht von selbst um. Wer ihr nicht nachkommt, muss also gezwungen werden. Werden da Bußgelder reichen? Was, wenn nicht? Wie sollen die Zwangsmaßnahmen aussehen, mit denen die dezidiert Unwilligen zum Piks gezwungen werden? Das waren und sind meine Überlegungen.
Die Impfung braucht Werbung. Drohung und Beschimpfung sind keine Werbung. Ein Lockdown für die Ungeimpften wird jetzt diskutiert. Ich halte das für grundfalsch und grundgefährlich. Warum? Weil so das Reden von der Freiwilligkeit der Impfung ad absurdum geführt wird. Da würde ja eine Impfpflicht vielleicht weniger Aggressionen hervorrufen – weil sie ehrlicher ist als Gerede von Freiwilligkeit bei gleichzeitigen Repressionen.
Das große Geläute
Söder hat der künftigen Regierungskoalition vorgeworfen, dass sie zu lasch sei. Lasch? Von lasch kann nicht die Rede sein. Aber Söder hat so oft Laschet als lasch verspottet, dass er davon nicht mehr lassen kann. Es ist so: Der größte Teil der Regelungen, die jetzt noch an die Notlage von nationalem Ausmaß geknüpft sind, bleiben nach dem geplanten Gesetz der künftigen Regierungskoalition bestehen. Die besonders exzessiven Regeln und Restriktionen wie der Shutdown und nächtliche Ausgangsverbote werden mit dem neuen Gesetz zwar eingefroren, können aber jederzeit wieder aufgetaut werden. Um ein anderes Bild zu gebrauchen: Es hängt weiterhin das große Geläute im Turm; es wird aber nicht rund um die Uhr mit allen Glocken geläutet.
Die Sehnsucht nach dem Freedom Day
Von einem „Freedom Day“, von dem Tag, an dem alle Beschränkungen wieder entfallen, sind wir sehr weit weg. Es wird aber oft so getan, als sei ein solcher Tag etwas Hochproblematisches, als sei es unanständig, sich einen solchen Tag zu wünschen, als sei das schon an der Grenze zur Verfassungsfeindlichkeit. Es ist dies aber einfach der Tag, an dem die Grundrechte wieder voll und ganz und ohne jede Einschränkungen gelten. Wer sich diesen Tag wünscht, wer ihn herbeisehnt, der wünscht sich den Normalzustand, wie ihn sich das Grundgesetz vorstellt. Das muss eigentlich unser aller Sehnsucht sein. Das Ziel aller Anti-Corona-Maßnahmen muss es sein und bleiben, sie überflüssig zu machen. Das muss man im beschwerlichen Corona-Alltag spüren. Wer sich den Freedom Day wünscht, der will nicht das immerwährende Oktoberfest; er will einfach das uneingeschränkte gesellschaftliche und private Leben zurück. Dieser Wunsch ist gut und wichtig. Darin steckt der Wille zur Zukunft.
Dieser Wille wird diskreditiert, wenn das Robert-Koch-Institut jetzt schon wieder rigorose Veranstaltungs- und Kontaktverbote fordert. Das ist kontraproduktiv. Das ist ein Schlag für die Glaubwürdigkeit der Impfkampagne. Man hat für das Impfen geworben, weil es jedenfalls für die Geimpften Begegnung und Freiheit zurückgebe. Das darf nicht zu leerem Gerede werden. Zentrale Aufgabe des RKI ist die öffentliche Gesundheitspflege. Es darf dabei nicht übergriffig werden. Das RKI ist Beraterin der Politik, nicht ihr Vormund.
Hoffnung ist eine Haltung der Offenheit
Der Wille zur Zukunft ist wichtig. Es ist gefährlich und schädlich, diesen Willen zu missachten, zu veräppeln oder gar zu verteufeln. Es gilt, die Hoffnung wachzuhalten. Hoffnung ist nicht allein etwas Inneres, etwas Geistiges. Hoffnung zeigt sich auch in der Sprache, die man spricht. Apokalyptische Szenarien, Panikmache und Diffamierungen sind hoffnungslos, weil sie Beziehungen vergiften und den Willen zur Zukunft brechen; sie sind hoffnungslos gefährlich. Hoffnung ist eine Haltung der Offenheit. Annette Kurschus hat sie so ausgedrückt: „Wir haben keine Lösungen parat. Wir wissen es nicht besser als andere. Aber: Wir blicken anders in die Welt. Von einer Verheißung getragen. Auf Hoffnung hin. Die gilt es stark zu machen in der Welt.“
Ich meine, die Hoffnung stark zu machen ist nicht nur Sache der Religion; das ist auch Sache der Politik.
Jeden Sonntag beschäftigt sich Heribert Prantl, Kolumnist und Autor der SZ, mit einem gesellschaftlichen und/oder politischen Thema, das in den Tagen zuvor wichtig war – und manchmal auch über die Woche hinaus. Sie können „Prantls Blick“ auch im Rahmen eines wöchentlichen Newsletters bestellen. Sie erhalten dann die Wochenschau (lesbar mit SZ Plus) vorab in Ihrem Mail-Postfach und dazu exklusiv Heribert Prantls persönliche Leseempfehlungen.