Der 50. Jahrestag des Radikalenerlasses ist folgenlos vorbeigegangen. Er bedarf noch intensiver Nachbereitung.

Von Heribert Prantl

Es war ein anrüchiges Jubiläum. Vor ein paar Monaten, im Januar 2022, wurde der Radikalenerlass fünfzig Jahre alt. Jubiläen brauchen üblicherweise lange Vorbereitung. Dieses Jubiläum braucht eine intensive Nachbereitung. Warum? Weil die Betroffenen immer noch nicht rehabilitiert sind. Weil die Betroffenen immer noch nicht entschädigt worden sind. Weil es auch noch keine deutschlandweite kollektive staatliche Entschuldigung gibt für ein kollektives Unrecht, das der Staat begangen hat. Und weil schon wieder, zum Beispiel in Brandenburg, an neuen Radikalenerlassen gearbeitet wird.

Es braucht keine neuen pauschalen Radikalenerlasse, um zu verhindern, dass Reichsbürger Beamte werden; es braucht konkrete und individuelle Aufmerksamkeit.

Der Radikalenerlass mit den Berufsverboten im Gefolge war eines der folgenreichsten Desaster in der Geschichte der Bundesrepublik. Er führte zur staatlichen Gesinnungsschnüffelei bei einer ganzen Generation – die deswegen auf Distanz zum Staat ging. Lehren daraus zu ziehen, ist bitter notwendig. Was kann man lernen? Man kann lernen, wie Radikalismus bekämpft wird und wie nicht. Man kann daraus lernen, wie man Demokratie schützt und wie man ihr schadet. Der Radikalenerlass und die Berufsverbote haben ihr geschadet.

Wie man Demokratie schützt – und wie man ihr schadet

Der Radikalenerlass verlangte, dass Beamte, Angestellte und Arbeiter im öffentlichen Dienst Garanten der politischen Ordnung sein müssen. Als Garanten konnten sie nur dann gelten, wenn sie „jederzeit“ für die „freiheitliche demokratische Grundordnung im Sinn des Grundgesetzes“ eintreten und sich „aktiv innerhalb und außerhalb des Dienstes für die Erhaltung dieser Grundordnung einsetzen“.

Der Erlass war Ausgangspunkt für die sogenannte Regelanfrage beim Verfassungsschutz, also für eine Art von ideologischer Schleppnetzfahndung. Millionen von Menschen wurden vom Verfassungsschutz überprüft, der sodann mit seinen so gewonnenen Erkenntnissen die Anfragen der Einstellungsbehörden beantwortete. Von der echten oder angeblichen Gesinnung eines damals 25-Jährigen wurde auf sein Handeln als 50-Jähriger geschlossen.

Generalmisstrauische Überprüfungen

Zigtausende wurden staatlich zur peinlichen Befragung vorgeladen, betroffen waren vor allem junge Lehrerinnen und Lehrer – und solche, die es werden wollten. Sie durften nicht unterrichten, wenn sie irgendwann bei einer linken Demonstration dabei gewesen waren. Bei manchen dieser jungen Menschen bestand die Schuld nur darin, dass sie im linken Flügel der SPD oder in der Friedensbewegung zu Hause waren. Wer sich mit ihnen in Zeitungsanzeigen solidarisierte, wurde selbst verfolgt.

Es bricht dem Staat kein Zacken aus der Krone, wenn er heute erklärt, dass die jahrlangen generalmisstrauischen Überprüfungen falsch waren. Die Grünen, zu deren Wurzeln der Kampf gegen die Berufsverbote zählt, haben sich zum Jahrestag der Berufsverbote nicht besonders für eine Entschuldigung und Rehabilitierung eingesetzt – jedenfalls nicht auf Bundesebene.

Der heute 74-jährige Winfried Kretschmann, grüner Ministerpräsident von Baden-Württemberg, kennt sich mit Radikalenerlass und Berufsverbot gut aus. Er hat das am eigenen Leib erlebt. Er war damals, als 24-Jähriger, ASTA-Vorsitzender und Maoist an der Uni Hohenheim. Er durfte nicht Lehrer werden – bis sich sein weiser Widerpart, der Uni-Präsident George Turner, ganz heimlich beim Kultusministerium in Stuttgart für ihn einsetzte.

Kretschmann hatte unverschämtes Glück, viele andere seiner Altersgenossen hatten dieses Glück nicht. Im Interview zum Jahrestag des Radikalenerlasses wand sich Kretschmann wie ein Aal, als es um kollektive staatliche Entschuldigung und Rehabilitierung der ungut Betroffenen ging. Er verwies auf eine in Arbeit befindliche wissenschaftliche Studie der Universität Heidelberg zum Extremistenbeschluss; die wolle er abwarten.

Eine neue Studie ist da

Er muss sie nicht mehr abwarten. Die Studie, gefördert vom Stuttgarter Wissenschaftsministerium, ist mittlerweile da. Sie wurde am 20. Mai veröffentlicht. Der Wallstein-Verlag hat sie soeben als gewichtiges Buch veröffentlicht – 684 Seiten, herausgegeben vom Historiker Edgar Wolfrum, Inhaber des Lehrstuhls für Zeitgeschichte am Historischen Seminar der Ruprecht-Karl-Universität Heidelberg. Das Buch heißt: „Verfassungsfeinde im Land. Der ‚Radikalenerlass‘ von 1972 in der Geschichte Baden-Württembergs und der Bundesrepublik“.

Im Geleitwort schreibt die grüne Wissenschaftsministerin Theresia Bauer, es sei „Aufgabe und Pflicht jeder Regierung, ihr eigenes und früheres Regierungshandeln aufzuarbeiten und immer wieder kritisch zu reflektieren“. Das stimmt. Sie schreibt weiter: Der Radikalenerlass sei vor fünfzig Jahren in der Hoffnung erlassen worden, „die damals noch junge Demokratie zu stärken und vor Feinden zu schützen.“ In der Praxis habe dies aber dazu geführt, „dass die Lebensentwürfe von vor allem jungen Menschen zerstört und Existenzen gefährdet wurden“. Das stimmt auch.

Hochburg der Berufsverboterei

In Baden-Württemberg ist der Radikalenerlass besonders radikal exekutiert worden. Er hieß hier „Schiess-Erlass“, benannt nach dem damaligen Stuttgarter CDU-Innenminister Karl Schiess. Dieser Minister hatte damals veranlasst, dass, bevor ein Bewerber oder eine Bewerberin in den öffentlichen Dienst übernommen werde, „die Einstellungsbehörden zunächst beim Innenministerium anzufragen“ hätten, „ob Tatsachen bekannt sind, die Bedenken gegen die Einstellung begründen.“ Das galt dann selbst für die Einstellung von Putzfrauen. Ministerpräsident Hans Filbinger rühmte die „eiserne Entschlossenheit“ seines Innenministers.

Wer in der wissenschaftlichen Studie liest, der lernt, dass Baden-Württemberg eine Hochburg der Berufsverboterei war. Er lernt auch, dass die Maßnahmen im Zug des Radikalenerlasses kollektives Unrecht darstellen: Die sogenannten Verfassungstreue-Prognosen von damals, die sämtlichen Verfahren zugrunde lagen, verstießen gegen Kernnormen des internationalen Arbeitsrechts. Sie basierten nämlich meist nicht auf einem konkreten Fehlverhalten, sondern auf der allgemeinen Annahme, die betreffende Person werde sich aufgrund ihrer politischen Überzeugungen schon irgendwann schuldig machen.

Ein Weiteres wurde mir bei der Lektüre der Studie und des Buches noch einmal klar: Dass die Berufsverbote in ihrer Umsetzung fast ausschließlich kritisch gerichtete Linke betrafen; der Staat war auf dem rechten Auge blind. Die Studie illustriert das mit eindrucksvollen Beispielen.

Soll Kretschmann sich bei sich selbst entschuldigen?

Wie zu hören ist, wehrt sich Ministerpräsident Kretschmann immer noch dagegen, sich heute im Namen des Staates bei den vom Berufsverbot Betroffenen zu entschuldigen – weil er sich doch nicht bei sich selbst entschuldigen könne. Das klingt knitzig-neckisch, überzeugt aber nicht. Winfried Kretschmann kann sich selbst ja ausnehmen, er hat es schließlich gut erwischt und ist dem Schiess-Erlass ausgekommen.

Die damals jungen Leute, die durch den Radikalenerlass und das Berufsverbot aus dem Gleis geworfen wurden – sie sind heute so zwischen fünfundsiebzig und achtzig Jahre alt. Soll, will die Politik auf eine biologische Lösung setzen? Das wäre eines Rechtsstaats nicht würdig.


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