Am 23. Mai 1949 trat die Bundesrepublik Deutschland in die Geschichte ein, und die Abgeordneten sangen das Turnerlied. Wie das neue Deutschland wurde, was es ist. Und wie das Grundgesetz zum Motor wurde für die geglückte Modernisierung der deutschen Gesellschaft.

Von Heribert Prantl

Für das Grundgesetz hat sich damals, 1949, kaum jemand interessiert. Als vor 73 Jahren, am 23. Mai, das Bonner Verfassungswerk unterzeichnet und verkündet wurde, da waren nur die Unterzeichner gerührt. Orgelbegleitung konnte nicht überspielen, was diesem Grundgesetz fehlte: die Zustimmung des Volkes. Abseits vom öffentlichen Interesse war es entstanden, auf Befehl der Besatzungsmächte. Man fügte sich in den neuen Staat, der mit diesem Grundgesetz konstituiert wurde, wie in ein notwendiges Übel. Die Bundesrepublik galt als tristes Resultat trüber Entwicklung der Weltpolitik seit 1945. Sie kommt, so befand das Streiflicht der Süddeutschen Zeitung, „als Krüppel zur Welt“ – ohne die Beine der Souveränität. Und der Autor hoffte, dass der Krüppel „auf der Krücke des Grundgesetzes“ zu gehen lernt.

Die Spaltung des Vaterlandes

Widerstrebend erst, mit wachsender Zustimmung dann, gingen die deutschen Politiker den Weg zur Bundesrepublik. Sie markierten ihn auf Schritt und Tritt mit Vorbehalten: keinen Staat, nur ein Provisorium wollte man bauen; keine Verfassung, nur ein Grundgesetz wollte man schreiben; keine Nationalversammlung, nur einen Parlamentarischen Rat hatte man einberufen wollen. Und statt einer Volksabstimmung über das Grundgesetz ließ man die Ratifizierung durch die Landtage der Länder genügen. Es war der verzweifelte Versuch, das Unvermeidliche zu vermeiden: die Spaltung des Vaterlandes. Nichts wollte man deshalb so machen, wie es sich für einen richtigen Staat gehört.

Die Öffentlichkeit war gefangen von den Nachwirkungen der Währungsreform und von der Dramatik der Berlin-Blockade. Die Sowjets hatten die Stadt kurz vor Beginn der Arbeiten am Grundgesetz abgeriegelt; die Luftbrücke mit ihren Rosinenbombern, über die Berlin versorgt wurde, dauerte fast bis zur Unterzeichnung und Verkündung des Grundgesetzes am 23. Mai 1949 an. Die Zeitungskommentatoren schrieben mit frostiger Distanz: „Die anscheinend bevorstehende Gründung des Weststaats nimmt sich aus wie eine gespenstische Variante der Fiktion Jean-Jacques Rousseaus, wonach jeder Staat auf einem Vertrag beruhe“, hieß es in der Süddeutschen Zeitung im Jahr 1948. „Hatte der französische Aufklärer an einen Vertrag zwischen den Staatsbürgern gedacht, so liegt hier ein Übereinkommen zwischen den Ministerpräsidenten und ihren alliierten Partnern vor.“ Man sollte es, so riet der Autor, beim Namen „Weststaat“ belassen: Damit sei klar, dass hier keine echte Idee verkörpert sei „und dass der Staat keiner Fahne fähig ist, um die sich Gefühle sammeln könnten“.

Die Magnettheorie

Der SPD-Politiker Carlo Schmid teilte zunächst diese Zurückhaltung. Auf dem Chiemseer Verfassungskonvent hielt er noch flammende Reden gegen eine „Verfassung“: Von Verfassung könne keine Rede sein, weil man für eine echte Verfassung auf die Barrikaden gehen müsse und nicht erst die Genehmigung einer Militärregierung einholen dürfe. Und trotzdem – Carlo Schmid wurde einer ihrer Architekten. Er geriet, wie fast alle anderen Verfassungsjuristen und Politiker, ins Feld der Magnettheorie: Ein politisch attraktives, ökonomisch aufblühendes Westdeutschland sollte wie ein Magnet die östlichen Gebiete an sich ziehen. Ein bloßes Verwaltungsstatut hätte diesen Ansprüchen nicht genügt. Das Grundgesetz musste den Grundstein für eine solche gedeihliche Entwicklung legen. Und Grundrechte sollten das Herz des Grundgesetzes bilden.

Trotz der Anrufung Gottes

Die beiden Kommunisten Max Reimann und Heinz Renner verweigerten im Parlamentarischen Rat ihre Unterschrift unter die 146 Artikel – so wie zuvor, in den Morgenstunden des 20. Mai, auch die CSU und der von ihr dominierte Bayerische Landtag die Zustimmung zum Grundgesetz verweigert hatten. Heinz Renner bemerkte bitter: „Ich unterschreibe nicht die Spaltung Deutschlands.“ In Bayern hatte der katholische Prälat und CSU-Abgeordnete Georg Meixner anderes zu monieren; er klagte, „dass das Bonner Verfassungswerk trotz der Anrufung Gottes in der Präambel letztlich ein Werk des säkularisierten Geistes unseres Jahrhunderts ist“.

Konrad Adenauer focht das nicht an; er sprach am 23. Mai 1949: „Heute wird die Bundesrepublik Deutschland in die Geschichte eintreten.“ Dann standen alle auf und sangen ergriffen das alte Turnerlied: „Ich hab mich ergeben mit Herz und mit Hand, Dir Land voll Lieb und Leben, mein deutsches Vaterland.“ Die parlamentarischen Räte hatten Skrupel, auch nur die Melodie des Deutschlandliedes zu spielen; alles war ja, vermeintlich, nur ein Provisorium. Keine der Mütter, keiner der Väter des Grundgesetzes hat mehr erlebt, wie am 3. Oktober 1990, bei der Wiedervereinigung, aus ihrem „Provisorium“ die gesamtdeutsche Verfassung wurde.

Wie die Grundrechte Glanz gewannen

Nur langsam gewannen die Grundrechte des Grundgesetzes Glanz und Ausstrahlung. Unter kräftiger Anleitung des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe begannen die Westdeutschen mit steigendem Wohlstand ein Gefühl dafür zu entwickeln, was in den Verfassungswerkstätten von Herrenchiemsee und Bonn geschaffen worden war. In den großen Auseinandersetzungen der jungen Bundesrepublik – etwa um die Notstandsverfassung, um Rüstung und Abrüstung – suchten und fanden Diskutanten und Demonstranten Argumentationshilfe und Unterstützung im Grundgesetz. Sie erlebten, dass die Grundrechte tatsächlich über dem einfachen Gesetz und dem einfachen Gesetzgeber standen.

1959, zum Jubiläum des zehnjährigen Bestehens des Grundgesetzes, waren die Zeitungskommentatoren noch zurückhaltend. „Kann man gratulieren?“, fragte die Rheinische Post, um die Frage nach 140 Zeilen dann doch zu bejahen. Und W.E. Süskind, der Chefredakteur der Süddeutschen Zeitung, warb in seinem Leitartikel um mehr „Anhänglichkeit“ für dieses Grundgesetz. Weitere zehn Jahre später war diese Anhänglichkeit stark gewachsen. Das Grundgesetz, so wie es vom Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe interpretiert und fortentwickelt worden ist, wurde zum Motor für die geglückte Modernisierung der deutschen Gesellschaft. Das war, das ist das Grundgesetz-Wunder.

Die Herrensakkos und das Familienrecht

Ohne das Zutun des Verfassungsgerichts würde das deutsche Familienrecht immer noch so ähnlich aussehen wie ein Fotoalbum aus den frühen Fünfzigerjahren. Und die Gesetzbücher läsen sich womöglich noch so antiquiert wie damals: der Mann als Bestimmer mit Herrschaftsbefugnis und Entscheidungsrecht. Es gab zwar im Grundgesetz den Gleichberechtigungsartikel 3; aber die Männer im Bundestag warfen ihr Sakko über den Artikel 3 und machten gesetzgeberisch einfach so weiter wie vorher. Karlsruhe stellte klar, dass das nicht geht – dass der Gleichberechtigungsartikel also eine unmittelbar geltende, alle Staatsgewalten bindende Verfassungsrechtsnorm ist, an der alle Gesetze sich messen lassen müssen.

Schutzmacht der Minderheiten

Ohne das Karlsruher Gericht wäre die Bundesrepublik eine andere Republik – eine Republik, in der das Recht weniger Bedeutung und die Grundrechte weniger Glanz hätten. Deutschland wäre ein Land mit steileren Machthierarchien und niedrigerer Rechtsqualität. Die Bundesrepublik wäre eine Republik, in der die Parteien noch mehr Macht, die Bürgerinnen und Bürger dagegen weniger Freiheiten und die Minderheiten weniger Rechte hätten. Vor allem Letzteren ginge es schlechter: Strafgefangenen, Pazifisten, Homo- und Transsexuellen, nichtehelichen Kindern, den Armen dieser Gesellschaft. Das Verfassungsgericht war und ist ihre Schutzmacht. Bei den Flüchtlingen aber hat das Gericht versagt; bei der Änderung des Asylgrundrechts hat es gekuscht. Und bei der Prüfung der Corona-Grundrechtseinschränkungen hat das Gericht seine Aufgabe nur sehr lässig erfüllt. Da hat es vergessen, dass eine Verfassung dafür da ist, den Menschen Halt zu geben. Diesen Halt braucht die Gesellschaft auch heute und morgen.


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