Guten Tag,

Wahlkampf ist wie eine Fahrt mit der Geisterbahn. Man weiß nicht, welches Gespenst mit wie viel Gelärm und Gejohle hinter der nächsten Kurve aufklappt. Man weiß auch nicht, wie viele Gespenster einen Kandidaten noch erwarten. Man weiß allerdings, dass die Fahrt der Kandidaten von einem Millionenpublikum beobachtet wird, und man weiß, wie lange die Fahrt dauert: Sie dauert noch zwei Wochen, bis zum 26. September. Der CDU-Kanzlerkandidat Armin Laschet hat schon viele Gespenster hinter sich gelassen; die einen sahen aus wie Markus Söder, die anderen wie er selber. Laschet hat sich davon nicht merklich beeindrucken lassen, die Umfragen sind mehr erschrocken als er. Beim CSU-Parteitag in Nürnberg trat Laschet unerschrocken, souverän und animierend auf.

Verdacht zur Unzeit

Nun stürzen sich die Gespenster auf den SPD-Kanzlerkandidaten Olaf Scholz. Seine Gespenster sind Staatsanwälte aus Osnabrück. Sie haben soeben das von ihm geführte Finanzministerium durchsucht. Sie ermitteln gegen die Geldwäsche-Zentralstelle des Zolls wegen des Verdachts der Strafvereitelung im Amt. Die Zentralstelle heißt „Financial Intelligence Unit“ (FIU). Sie soll zahlreiche Hinweise von Banken und Notaren auf Geldwäsche nicht an Polizei und Justiz weitergeleitet haben. Was hat das mit Scholz zu tun? Nicht viel, aber doch so viel: Die schludrige Zentralstelle untersteht seinem Ministerium, also ihm. Es geht um politische Verantwortung.

Der Verdacht gegen die Zentralstelle ist nicht neu, die Ermittlungen laufen schon lange. Neu ist die Razzia im Haus des Finanzministers, sie ist heikel für den Kanzlerkandidaten, sie kommt zur Unzeit. Sie triggert Erinnerungen an Skandale, in denen Scholz nicht besonders gut aussah: Da ist der Warburg-Cum-Ex-Skandal und da ist der Wirecard-Skandal.

Scholzens Wasserhahn

Im Cum-Ex-Skandal geht es darum, dass sich die alteingesessene Hamburger Bank mit dubiosen Aktiendeals über viele Jahre hin Steuergutschriften verschafft hat – es geht um Kapitalertragssteuern, 47 Millionen Euro allein für das Jahr 2009. Es geht um die Frage, ob Scholz, seinerzeit Hamburger Bürgermeister, bei seinen Finanzbehörden darauf hingewirkt oder es jedenfalls mit Gleichmut hingenommen hat, dass das von der Bank betrügerisch erlangte Geld nicht zurückgefordert wurde. Hat Scholz, hat sein damaliger Finanzsenator in ein laufendes Straferfahren zugunsten von mutmaßlichen Straftätern eingegriffen, gab es eine politische Intervention? Bewiesen ist nichts, auch ein Untersuchungsausschuss der Hamburger Bürgerschaft hat den Nebel nicht gelichtet. Scholz konnte sich an fast nichts erinnern, er wusch die Hände in Unschuld.

So ähnlich war und ist es auch im Wirecard-Skandal und bei den Untersuchungen des Wirecard-Untersuchungsausschusses. Es handelt sich, wie Scholz selber sagt, um den bisher größten Fall von Bilanzfälschung in Deutschland – um Großbetrug. Die Aufsichtsbehörden haben dabei ihrer Aufsichtspflicht nicht genügt. Zuständig ist die Bafin, die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht. Sie verdient, nach all den Versäumnissen und Fehlern, die bekannt geworden sind, diesen Namen nicht; sie müsste Bundesanstalt für Nichtaufsicht heißen. Und was hat Scholz damit zu tun? Er ist der Dienstvorgesetzte der Behörde, er ist politisch verantwortlich dafür, dass die Behörde komplett versagt hat. Er wäscht aber, wie gesagt, seine Hände in Unschuld. Danyal Bayaz, früher grüner Bundestagsabgeordneter und seit Mai Finanzminister des Landes Baden-Württemberg, hat das süffisant kommentiert. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung zitiert ihn mit dem Satz, dass Scholz den Wasserhahn gar nicht mehr zu bekomme, „so oft wie er seine Hände in Unschuld wasche“.

Das Hammer-Urteil

Die staatsanwaltschaftliche Razzia im Hause Scholz hat die Erinnerungen daran kräftig aktiviert. Warum passiert das gerade jetzt, zwei Wochen vor der Bundestagswahl? Verfolgen die Ermittler politische Absichten? Ist die Triggerei ein politisches Kalkül? Die Staatsanwaltschaft sagt von sich selber gern, sie sei die objektivste Behörde der Welt. Aber fast jeder weiß, dass das nicht stimmt. Die deutschen Staatsanwälte sind, anders als die Richter, nicht unabhängig. Sie sind politisch weisungsgebunden. Das politische Weisungsrecht gehört zu den Geburtsfehlern der deutschen Staatsanwaltschaft. Sie verdankt ihr Leben „dem Bedürfnis der Regierung, sich jederzeit Einfluss auf die Strafrechtspflege zu sichern“. So schrieb die Juristenzeitung schon zur Weimarer Zeit. Und so ist es bis heute: Der EU-Gerichtshof in Luxemburg hat vor gut zwei Jahren in einem Hammer-Urteil die deutsche Staatsanwaltschaft und den deutschen Gesetzgeber hart, richtig und zukunftsweisend kritisiert: Die Staatsanwaltschaft sei nicht ausreichend unabhängig von der Politik, so wie vom europäischen Recht vorgeschrieben. Die EU-Richter haben es der deutschen Staatsanwaltschaft daher verboten, EU-Haftbefehle auszustellen.

Was ist seit diesem Hammer-Urteil passiert? Praktisch nichts. Die Berufsvertretungen der Richter und Staatsanwälte protestieren auf ihren Tagungen seit langem gegen die Weisungsabhängigkeit der Staatsanwaltschaft von Politik. Die Politik negiert diese Forderungen genauso wie das Urteil des Europäischen Gerichtshofs. Die Politik verweist darauf, dass es doch nur ganz selten solche Weisungen gebe. Das mag sein. Aber es sind dies dann immer die heiklen Verfahren. Sie ziehen sich durch die Geschichte der Republik – Strauß, Kohl, Wulff, Gysi, Edathy. Wenn es angeblich Weisungen praktisch kaum gibt, dann hätte man ja die Weisungsabhängigkeit auch schon lang aus dem Gesetz streichen können. Sie ist rechtsstaatswidrig.

Opfer eines Elends

Die Razzia im Ministerium Scholz ist von der Staatsanwaltschaft Osnabrück betrieben worden. Osnabrück liegt in Niedersachsen. Justizministerin in Niedersachsen ist, seit 2017, Barbara Havliza, CDU. Sie ist die oberste Chefin der Staatanwaltschaft in ihrem Land, sie ist weisungsbefugt. Es kann sein, dass sie auf die Ermittlungen gegen Beamte der Geldwäsche-Zentralstelle wegen Strafvereitelung im Amt keinerlei Einfluss genommen hat. Es mag sein, dass sie mit den Durchsuchungsaktionen ihrer Staatsanwälte im Ministerium des SPD-Kanzlerkandidaten (und im Ministerium der SPD-Justizministerin) überhaupt nichts zu tun hat. Aber allein der Verdacht, dass es so sein könnte (und bei der geltenden Gesetzeslage könnte es so sein), ist elend. Wer immer Regierungschef in Deutschland wird, ob Laschet oder Scholz: Beiden muss daran gelegen sein, dieses Elend zu beenden – schon deshalb, weil ein Politiker jedweder Couleur ein Opfer dieses Elends sein kann.

Zufall und Gunst der Stunde

Bis zur Razzia waren die Umstände für den Kanzlerkandidaten Olaf Scholz ähnlich günstig wie vor gut zehn Jahren, als er Erster Bürgermeister in Hamburg wurde. Bei der Bürgerschaftswahl damals, am 20. Februar 2011, gewann er mit seiner SPD spektakulär die absolute Mehrheit. Auch damals hatte man sich schon gefragt, was man sich wieder in den vergangenen Wochen fragte: Wie kann ein so spröder Mensch wie Olaf Scholz auf einmal zum Glücksbringer werden? Wie wird einer vom Verlierer zum Sieger, wenn er doch selbst mehr oder weniger derselbe geblieben ist?

Da mag es, damals wie heute, gewisse Fehlbewertungen der Person gegeben haben; die gibt es heute bei Laschet auch. Aber für deren Korrektur müssen günstige Umstände zu Hilfe kommen. Scholz und die SPD konnten vor einem Jahrzehnt die Wahl in Hamburg deshalb so glorreich gewinnen, weil die Umstände für sie damals sensationell günstig waren. Damals war das der Abgang des CDU-Bürgermeisters Ole von Beust und der furchtbare Verfall der hamburgischen CDU. Im Licht der Verdrießlichkeit der Hamburger über die scheuernde schwarz-grüne Koalition wurde seinerzeit der Blick auf Scholz und seine SPD gedreht. Nach der Flucht des Ole von Beust aus der Verantwortung erschien den Wählern der eher sperrige Olaf Scholz, der sich von vielen Niederlagen und Misserfolgen in Bund und Land nicht hatte niederdrücken lassen, auf einmal als die Verkörperung der Seriosität. Und angesichts einer völlig zerstrittenen Landes-CDU erinnerten sich Hamburgs Bürgerinnen und Bürger daran, dass sie unter der Regierung der SPD einst schon glanzvolle Zeiten erlebten. So ähnlich wie vor über einem Jahrzehnt in der Hansestadt Hamburg ist es jetzt im Bund, am Ende der Ära Merkel.

Kerneigenschaften eines Bundeskanzlers

Politischer Erfolg ist also, jedenfalls in gewissem Maß, auch Zufall und Gunst der Stunde. Aber solcher Zufall gehört zur demokratischen Normalität. Demokratie besteht auch aus der Abfolge von Hui und Pfui für die, die sich zur Wahl stellen. Und es überleben in der Demokratie die Parteien und die Politiker, die solche emotionale Rotation ertragen können. Resilienz nennt man eine solche Fähigkeit. Wenn sie zu den Kerneigenschaften eines deutschen Bundeskanzlers gehört – dann ist dieser Kern sowohl bei Laschet als auch bei Scholz vorhanden.

Ich wünsche Ihnen, ich wünsche uns allen einen schönen Sommerausklang – und zwei spannende letzte Wahlkampfwochen.

Ihr

Heribert Prantl,
Kolumnist und Autor der Süddeutschen Zeitung


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