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es war der zwölfte Verhandlungstag im Edenpalast-Prozess. Vor dem Schwurgericht Berlin-Moabit stand der Zeuge Adolf Hitler, befragt, einvernommen und zerlegt vom jungen Rechtsanwalt Hans Litten. Hans Litten war sehr jung, erst 28 Jahre alt, und er war sehr brillant, er war ein Mann von nicht einzuschüchterndem Gerechtigkeitssinn, er war einer der großen Strafverteidiger der Weimarer Republik. Seine Stimme war gefürchtet, seine Verteidigung Anklage. Im Gerichtssaal hat er versucht, die Strategien des braunen Terrors zu entlarven, ihre Protagonisten vorzuführen.

Ein Höhepunkt dieser Versuche ist jetzt genau 90 Jahre her: Litten war den Opfern des SA-Überfalls im Berliner Versammlungslokal Edenpalast als Armenanwalt und Nebenklägervertreter beigeordnet. In dieser Rolle beantragte er die Vernehmung des, so Litten wörtlich, „Parteiangestellten“ Adolf Hitler – um zu beweisen, dass Hitler als Chef der NSDAP vom Terror der SA wusste und die Gewalt billigte, dass also das gebetsmühlenhafte Reden von der „Legalität“ ein taktisches Lippenbekenntnis war. Bei der Reichstagswahl von 1930 hatte die NSDAP ihren Stimmenanteil fast verfünffacht, war statt mit zwölf nun mit 107 Abgeordneten in den Reichstag eingezogen, stellte nach der SPD die zweitstärkste Fraktion. Hitler wollte nun mit der NSDAP nicht mehr auf revolutionärem, sondern auf legalem Weg die Macht erobern und redete deshalb viel von der „Legalität“, was in seiner Partei nicht unumstritten war.

Im Edenpalast-Prozess ging es um einen SA-Überfall auf das Tanzlokal Eden in der Berliner Kaiser-Friedrich-Straße – im November 1930, zwei Jahre und zwei Monate vor der Machtübernahme Hitlers, also seiner Ernennung zum Reichskanzler. Der Tanzpalast Eden war damals ein beliebter Versammlungsort für proletarische Vereine. Am Abend des 22. Septembers trafen sich dort im Erdgeschoss die Bäcker und die Konditoren, im ersten Stock feierte der Arbeiter-Geselligkeitsverein Wanderfalke mit 120 Gästen ein Stiftungsfest. Ihnen galt der Überfall.

„Heil Hitler. Die Straße frei“

In der nahegelegenen Kneipe Zur Altstadt hatte der SA-Sturm 33 sein Verkehrslokal eingerichtet. Von dort rannten kurz vor Mitternacht an die zwei Dutzend Männer im Laufschritt, ausgerüstet mit Schusswaffen, Stahlruten und Knüppeln, zum Edenpalast in der Friedrichsstraße 24, und brüllten: „Heil Hitler, die Straße frei“. Die Bilanz des Sturmangriffs: drei Gäste durch Schüsse schwer verletzt, einer lebensgefährlich.

Sie waren die Nebenkläger im Edenpalast-Prozess vor neunzig Jahren. Die vier Angeklagten waren Mitglieder der NSDAP. Die Staatsanwaltschaft warf ihnen Landfriedensbruch vor; Litten hielt das für versuchten Mord am politischen Gegner. Er legte dar, dass, anders als von der Parteiführung behauptet, ein ernsthaftes Waffenverbot in der NSDAP nicht bestanden habe und die Partei Rollkommandos dulde, die „planmäßig organisierte Überfälle mit dem Ziele der vorsätzlich überlegten Tötung auf politische Gegner ausführten und dass dies dem Zeugen Hitler seit mindestens drei Jahren bekannt war“.

Als der Granit zerbrach

Am 8. Mai 1931, um 9 Uhr in der Früh, so meldet es das Sitzungsprotokoll des zwölften Verhandlungstags, meldete sich als geladener Zeuge der „Schriftsteller Adolf Hitler“ – und stand dann vormittags und nachmittags im Zeugenstand. Erst wurde er vom Vorsitzenden des Schwurgerichts, dem Landgerichtsdirektor Kurt Ohnesorge, vernommen und beantwortete die Fragen in der Pose des geübten Redners, theatralisch und mit einem Wortschwall. „Granitfest“, so Hitler, stünde die Partei auf dem Boden der Legalität.

Dann kam Litten, gut vorbereitet. Prozessbeobachter beschrieben seinen Vernehmungsstil als im Ton ruhig und angemessen, in der Sache aber hartnäckig. Litten deckte Widerspruch um Widerspruch der Aussagen des Zeugen auf, trieb den Zeugen mit seinen eigenen Aussagen in die Enge. Hitler geriet in Bedrängnis, verlor seine Selbstsicherheit, wurde nervös, die Staatsmann-Attitüde zerbrach. Litten bohrte nach, Hitler begann mit hochrotem Kopf zu brüllen, führte sich, wie es damals hieß, auf wie eine „hysterische Köchin“.

Die braune Rache folgte bald, sie war tödlich. Alsbald nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten wurde Hans Litten in „Schutzhaft“ genommen. Es war in der Nacht des Reichstagsbrandes, es war in den frühen Morgenstunden des 28. Februars 1933. Es begann ein furchtbarer Leidensweg. Litten wurde durch Gefängnisse und Konzentrationslager, durch die Marterstätten der Nazis geprügelt – zuletzt Dachau. Nach fast fünfjährigem Martyrium erhängte er sich in der Nacht vom 4. auf den 5. Februar 1938 im KZ Dachau. Er war 34 Jahre alt.

Ein franziskanischer Mensch

Hans Litten agierte und agitierte als „proletarischer Anwalt“, wie er sich selber nannte, oft im Auftrag der Roten Hilfe Deutschland, der Massenorganisation der KPD zur Unterstützung von politischen Gefangenen. Deren Kampagnen wurden unter anderen von Albert Einstein und Käthe Kollwitz mitgetragen. Zur KPD hatte Litten gleichwohl ein distanziertes Verhältnis; er wurde nach seinem Tod als „franziskanischer Mensch“ beschrieben. Wichtig waren ihm nämlich die zwei großen G: Gewaltlosigkeit und Gerechtigkeit. In Litten haben die Rechtsanwälte ein Vorbild. Er ist ein Vorbild auch dann, wenn man seine politische Einstellung nicht teilt. Er ist ein Vorbild an Mut und Tapferkeit.

Der Prozess ist Hans Litten nie gemacht geworden. Das NS-Regime hat den Anwalt, den Hitler als seinen persönlichen Feind betrachtete, einfach verschwinden lassen. So sieht völlige Rechtlosigkeit aus. Eine Rede Hermann Görings, wenige Tage nach der Verhaftung Littens gehalten, ist ein brutaler Kommentar: „Wenn Sie sagen, da und dort sei einer abgeholt und misshandelt worden, so kann man nur erwidern: Wo gehobelt wird, fallen Späne. Wir haben jahrelang die Abrechnung mit den Verrätern angekündigt.“ Solches Reden war zugleich die Vorbereitung zum Rechtsanwaltsgesetz vom 7. April 1933: Advokaten, die sich „im kommunistischen Sinn betätigt hatten“, wurden von der Anwaltschaft ausnahmslos ausgeschlossen; kommunistisch aber war jedwedes missliebige Verhalten.

Braune Namen, dicke Bücher

Jahrzehntelang hat die bundesdeutsche Juristerei einen großen Bogen um Litten geschlagen. Das hatte seinen Grund. Die alten Nazis waren in der jungen Bundesrepublik überall – in der Verwaltung, in der Justiz, in den Parlamenten. Die Nazi-Richter hatten das Hakenkreuz von der Robe gerissen und weitergerichtet. Die Jura-Professoren hatten die braunen Sätze aus ihren Büchern radiert und weitergelehrt und weitergeschrieben.

Große Jura-Kommentare tragen noch heute die Namen von NS-Juristen – der Standardkommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch heißt „Palandt“, der umfangreichste Kommentar zum Grundgesetz (Maunz/Dürig/Herzog/Scholz) ist nach Theodor Maunz benannt, einem Rechtsprofessor, der das NS-Regime legitimierte, von 1957 bis 1964 bayerischer Kultusminister war, dann zurücktreten musste und bis zu seinem Tod anonym in der rechtsextremen National-Zeitung publizierte. Der C.H. Beck-Verlag in München, der die genannten Werke herausgibt, hat vor wenigen Tagen eine Überprüfung der Namensgebung angekündigt.

Die Beamten haben nach dem Ende der Nazi-Herrschaft Adolf Hitler von der Wand gehängt und weiterverwaltet. Die Anwälte machten es nicht anders. Die Nazi-Juristen waren in hoher Konzentration auch dort, wo das Recht sein Zuhause hat: im Bundesministerium der Justiz. Die personellen und sachlichen Kontinuitäten zwischen der Nazi-Zeit und den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik hat das Rosenburg-Projekt untersucht, benannt nach dem ersten Dienstsitz des Justizministeriums in Bonn.

Im Oktober 2016 wurden die Ergebnisse der Studie veröffentlicht. Die Juristen, die aus der Nazizeit stammten, haben damals altes Unrecht, das aufgearbeitet hätte werden müssen, gedeckt und neues Unrecht geschaffen. Warum war das Justizministerium, wie viele andere bundesrepublikanische Behörden auch, so braun damals?

Die Nebel des Vergessens

Konrad Adenauer, der erste Bundeskanzler, hat das einmal so erklärt: Es handele sich um Leute, „die von früher was verstehen“. Es gab viel zu viele Leute, die von früher was verstanden, es gab viel zu viele Leute mit viel zu viel Verständnis für die vielen Täter und die vielen Mitläufer; und es gab viel zu wenige Leute mit Achtung und Respekt für die viel zu wenigen Widerständler gegen Hitler. Aus dem Qualm der Schuld wurden so die Nebel des Vergessens. In diesen Nebeln verschwanden für einige Jahrzehnte auch der Name und das Schicksal des Hans Litten.

In Dortmund gibt es eine Hans-Litten-Straße, in Berlin auch. In der Berliner Litten-Straße liegen das Landgericht und das Amtsgericht Mitte, dort haben die Bundesrechtsanwaltskammer, die Rechtsanwaltskammer Berlin und der Deutsche Anwaltverein ihren Sitz. Litten ist nicht mehr so vergessen in der Bundesrepublik Deutschland wie noch vor dreißig Jahren. Das Oberstufenzentrum für Recht und Wirtschaft (OSZ Recht) in Berlin-Charlottenburg wurde 2015 in Hans-Litten-Schule umbenannt.

Es ist gut, sich an ihn zu erinnern. Sein Beispiel mahnt, sein Schicksal warnt. Solche Juristen reizen Autokraten und Diktatoren, vor solchen Juristen fürchten sie sich. Warum? Je mehr solcher Juristen es gibt, umso schwieriger wird der Aufstieg und die Herrschaft der Rechtsverächter. Überall da, wo das Recht getreten und geschunden wird, überall da, wo die Verteidigung der Menschenwürde als Verachtung der Staatsgewalt verfolgt wird – überall da steht mahnend, warnend und aufbegehrend der Name Hans Litten.

Ich wünsche Ihnen schöne Mai-Tage und uns allen die Hoffnung, dass die Corona-Pandemie zu Ende geht.

Ihr

Heribert Prantl,
Kolumnist und Autor der Süddeutschen Zeitung


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