Die Bestrafung von ganz jungen Menschen hat böse Wurzeln, sie reichen zurück in dunkelste Zeiten. Gedanken zum Mord in Freudenberg.

Von Heribert Prantl

Man hört, man liest, man ist erst einmal stumm vor Entsetzen. Es ist unvorstellbar. Aber es ist geschehen. Kinder haben nach den vorliegenden Erkenntnissen ein Kind umgebracht. Unweit der nordrhein-westfälischen Kleinstadt Freudenberg wurde ein 12-jähriges Mädchen ermordet, von zwei anderen Mädchen, zwölf und dreizehn Jahre alt. Die Täterinnen und das Opfer waren Freundinnen.

Man muss das Strafgesetzbuch nicht aufschlagen, weil man schon weiß, was da steht. Einschlägig ist Paragraf 19: „Schuldunfähig ist, wer bei Begehung der Tat noch nicht vierzehn Jahre alt ist.“ Man kennt, man akzeptiert und respektiert diesen Satz. Er hilft einem aber nicht in der Verzweiflung. Er nimmt einer so grausamen Tat nichts von ihrer Grausamkeit. Und es gibt ein berechtigtes Interesse der Öffentlichkeit daran, auch vor ganz jungen Täterinnen und Tätern, Strafmündigkeit hin oder her, geschützt zu werden. Da ist das Recht gefordert. Es muss ja nicht das Strafrecht sein. Das Jugendhilferecht muss da Schutz und Hilfe sein.

Die strafrechtliche Unantastbarkeit von Kindern ist ein gutes Ergebnis der Aufklärung. Im späten 17. und im frühen 18. Jahrhundert waren ein Großteil der als Hexen hingerichteten Personen Kinder. So hat es der Historiker Wolfgang Behringer dargelegt, so hat es auch der Bielefelder Rechtsgeschichtler Wolfgang Schild erforscht. Schuldunfähig: Damit ist in der modernen strafrechtlichen Dogmatik gemeint, dass junge Menschen unter 14 Jahren psychisch und sittlich nicht reif sind, um einem Schuldvorwurf ausgesetzt zu sein.

Erziehungsmaßnahmen sollen die Unreife nehmen, die zu der rechtswidrigen Tat geführt hat

Vor Gericht stellen kann man die Täterinnen von Freudenberg daher nicht. Man kann, man muss mit den Mitteln der Jugendhilfe arbeiten, die bis zu einer Unterbringung in einer geschlossenen Einrichtung der Jugendhilfe reichen. Reicht das? Es reicht, und es ist gut, wenn es dort eine intensive Betreuung gibt. Erziehungsmaßnahmen sollen die Unreife nehmen, die zu der rechtswidrigen Tat geführt hat. Pädagogen wissen: Aus entwicklungspsychologischer Sicht sind Kinder im Alter von zehn bis vierzehn besonders unberechenbar.

Die Altersgrenze im Strafrecht: Jeder Jurist weiß, wie unendlich viele Publikationen es darüber gibt, Aufsätze, Festschriften und Zeitschriften. Die geltende Altersgrenze von 14 Jahren ist ewig hinauf- und hinunterdekliniert worden. Und die Wissenschaft ist sich ziemlich einig, dass es bei dieser Altersgrenze bleiben soll. Es gibt sie seit genau hundert Jahren: Der große Rechtsgelehrte Gustav Radbruch, Reichsjustizminister der SPD, hat in den Zwanzigerjahren ein Reformwerk geschaffen, das sich in seiner Substanz bewährt hat: das Jugendgerichtsgesetz. Dieses Gesetz von 1923 setzte die Strafmündigkeit auf 14 Jahre fest; bis dahin konnten, wie es konservative Politiker bis heute immer wieder verlangen, auch 12-jährige Kinder bestraft werden.

Seit 1923 gilt also die Erkenntnis, dass man auf Straftaten von Kindern bis zu 14 Jahren nicht mit Strafen, sondern mit den Mitteln der Kinder- und Jugendhilfe reagieren muss. Seit damals gibt es aber auch das Vorurteil, das Jugendstrafrecht sei ein lasches Recht, eine Art Kuschelecke der Justiz. Das war und ist falsch. Das Jugendstrafrecht ist nicht milder, es ist flexibler als das Erwachsenenstrafrecht. Es kann auch erheblich härter sein. Soll man es, so lautet die Frage nach Freudenberg, auch auf Kinder anwenden?

Die populäre und populistische Maxime „Strafe muss sein“ verlangt und will das; diese Maxime ist hartnäckig, sie kehrt immer wieder; sie wird aber nicht besser durch die ewige Wiederkehr. Es geht in den einschlägigen Diskussionen um die Bestrafung „Frühreifer“ und um die Erziehung „Unreifer“. Es geht um die Frage, ob wir nicht doch ein „Jungtäterrecht“ für ganz junge Täterinnen und Täter einführen sollten. Es geht darum, ob Kinder Beschuldigte sein können. Das heißt letztlich: Soll es möglich sein, Kinder in eine Gefängniszelle zu sperren?

Diese Frage hat sich mir nicht gestellt in den fünf, sechs Jahren, als ich nach dem Zweiten Juraexamen Richter und Staatsanwalt war; das war out of area. Die Frage hat sich aber gestellt, als ich Journalist geworden war. Ich musste kommentieren zu einem Fall, an den ich mich jetzt, nach Freudenberg, wieder erinnere: Es war der Mord an dem knapp dreijährigen James Bulger in Großbritannien. Die beiden Täter, die ihn entführt und ermordet hatten, waren zehn Jahre alt. Sie wurden von den britischen Richtern zu einer lebenslangen Haft im Jugendgefängnis verurteilt.

Ich habe mir damals vorgestellt, wie es denen dort ergeht, wie sie Opfer von Mobbing und Gewalt werden. „Geschieht denen doch recht“, mögen da die Verfechter der Kinderhaft sagen. Es ist eine Bemerkung, bei der ich Gänsehaut kriege. Gewiss: Bei den Briten liegt die gesetzliche Strafmündigkeitsgrenze nicht bei vierzehn, sondern bei zehn Jahren. Und trotzdem war ich froh, als die Verurteilung vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte kritisiert wurde. Letztlich haben die beiden Kindertäter dann eine Haftstrafe von acht Jahren verbüßt.

„Strafe muss sein“ – so reden die Populisten

„Strafe muss sein – und ein Schuss vor den Bug zeigt schon seine Wirkung“, so reden die Populisten. Eine solche Wirkung, die mich nachhaltig geschockt hat, zeigte sich im Jahr 1986 in der Justizvollzugsanstalt Braunschweig-Renneberg: Drei Jugendliche, sie saßen in Untersuchungshaft, zündeten in ihrer Zelle die Betten an, wohl nicht in der Absicht, sich umzubringen, sondern aus Wut und Verzweiflung darüber, eingesperrt zu sein. Unter Hitzeeinwirkung verklemmte sich die Tür, die Justizvollzugsbeamten konnten nicht mehr rechtzeitig öffnen. Zwei der Jugendlichen verbrannten – der eine war 15, der andere 16 Jahre alt. Selber schuld? Wer so etwas sagt, sollte nicht über die Schuldfähigkeit von Kindern urteilen.

Es gibt die jugendlichen Serientäter – ein krimineller Rabauke wie der Münchner Muhlis Ari, bekannt geworden unter dem Pseudonym Mehmet, war vor zwanzig Jahren das Exempel. Schon vor seinem 14. Geburtstag hatte er sechzig Straftaten begangen, das Jugendamt und die Betreuer bekamen ihn nicht in den Griff, Mehmet wurde zum Schrecken seiner Umgebung; er wurde dann, als er strafmündig geworden war, zu einer Haftstrafe ohne Bewährung verurteilt. Er beschäftigte die Zeitungen, er beschäftigte den Bundestag, den Landtag und eine Reihe von Wahlkämpfen.

Gegenstand waren aber nicht Überlegungen dazu, wie man so einen Tunichtgut zur Vernunft bringt, welche erzieherischen Maßnahmen es braucht. Zum Politikum wurde der Fall deswegen, weil es sich erstens um ein türkisches Kind handelte und weil es zweitens einen CSU-Politiker gab, der als Kreisverwaltungsreferent für das Ausländerrecht zuständig war und Münchner Oberbürgermeister werden wollte – dem kam dieser Fall zupass, um sich mit der Anweisung zu profilieren, den Buben samt seinen Eltern in die Türkei auszuweisen.

Spektakuläre Straftaten von Kindern und Jugendlichen werden politisch instrumentalisiert. Aus den Akten dieser Fälle werden Flugblätter und Wahlkampfplakate von Politikern, die als Hardliner punkten wollen. So war das seinerzeit in Großbritannien im Fall James Bulger. Und so war das seinerzeit in Deutschland im Fall Mehmet. Wenn das im Fall Freudenberg nicht mehr gelingen sollte, wäre das ein Indiz dafür, dass es noch Aufklärung gibt.


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