Ein Gedankenstreich. Und warum „Mut“ ein gutes Motto ist – für den neuen Papst Leo und für den neuen Kanzler Merz.
Von Heribert Prant
Vor fünfhundert Jahren, zur Zeit von Martin Luther, hieß der Papst auch Leo. Es war damals der zehnte Leo; der jetzige, soeben gewählte Papst ist der vierzehnte. Der damalige Leo war es, der den Reformator aufforderte, seine Thesen zu widerrufen, der ihm dann den Bann androhte und Luther, den katholischen Augustinermönch, schließlich exkommunizierte und damit aus der Kirche ausschloss. Es hätte nicht sein müssen. Heinrich Bedford-Strohm, der frühere Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland und jetzige Vorsitzende des Weltkirchenrats, hat einmal zu Franziskus, dem verstorbenen katholischen Oberhaupt, gesagt, dass mit ihm als Papst damals die Geschichte anders verlaufen wäre. Da schaute ihn dieser mit einem verschmitzten Lächeln an und sagte: „Dann hätte ich Luther zum Kardinal gemacht.“ Bedford-Strohm hat diese Anekdote vor Kurzem in einem Gastbeitrag für die Süddeutsche Zeitung erzählt.
Wäre Luther damals zum Kardinal gemacht worden, hätte es wohl eine Kirchenspaltung nicht gegeben. Dann hätte die katholische Kirche heute nicht 1,4 Milliarden, sondern doppelt so viele Mitglieder. Dann es gäbe wohl keinen Streit um die Rolle der Frauen in der Kirche, auch keinen Streit um den Zölibat und im Kardinalskollegium säßen nicht nur Kardinäle, sondern auch Kardinalinnen.
Frauenpower
Solche Gedanken hatte ich wohl unterbewusst im Kopf, als vor ein paar Tagen alle Welt so gebannt auf den Balkon des Petersdoms schaute, um auf die Vorstellung des neuen Papstes zu warten. Es war ein eigenartiger Gedankenstreich, der mir da durch den Sinn ging, ein Traum. Viele Katholiken würden sagen: ein Albtraum. Die Fantasterei ging so: Was, wenn jetzt die Türe aufginge und der Protodiakon des Konklaves, der französische Kardinal Dominique Mamberti, eine Frau auf den Mittelbalkon begleiten würde – um dann die ungeheuerlichen Worte zu sprechen: „Habemus Mamam.“ Und was, wenn diese Frau Mariann Edgar Budde hieße?
Die 65-jährige Bischöfin von Washington hatte beim Gottesdienst zum Amtsantritt von Donald Trump den US-Präsidenten ins Gebet genommen und Trump um Gnade, Erbarmen und Menschlichkeit für jene Menschen gebeten, die keinen Platz mehr in Amerika haben sollen, seitdem er an der Macht ist. Auf dem evangelischen Kirchentag in Hannover, eine gute Woche vor der Papstwahl in Rom, war die US-Bischöfin Budde mit Ovationen gefeiert worden. Von Frauenpower war da auf diesem Kirchentag die Rede. Und Budde wies in ihrem von viereinhalbtausend Menschen besuchten Bibelgespräch darauf hin, dass es zwei Frauen waren, die – dem Osterevangelium zufolge – als erste zum leeren Grab des auferstandenen Jesus kamen. Die Auferstehungsgeschichte beginnt also mit Frauen.
Der immerwährende Karfreitag
Wenn von Frauenpower die Rede ist, muss man auch von sexualisierter Gewalt und von Missbrauch in den Kirchen reden. Diese Missbrauchsskandale sind die Dornen in der Dornenkrone. Sie sind wie ein immerwährender Karfreitag der Kirche. In überwältigender Mehrheit sind Männer die Täter und Vertuscher. In der evangelischen Kirche sind es vielfach Frauen, die Aufarbeitung leisten wollen und müssen. Sie nehmen die für Empörung sorgenden Gutachten entgegen. Sie holen die Prügel der Öffentlichkeit ab. Sie investieren viel Zeit in die Aufarbeitung. Sie machen dabei auch Fehler. Trotzdem: Es ist dies ein österliches Tun, wo es aufrichtig und schonungslos geschieht. Krass gesagt: Die Power besteht darin, kirchliche Reinigungskraft sein zu müssen.
Eine Kirche, die sich dieser Aufgabe nicht stellt, verdient ihren Namen nicht. Das kann trotzdem nicht alles sein. Kirche geht nicht auf in ihren Sünden. Wie es keine billige Gnade geben darf, darf es auch keine billige Kirchenverachtung geben. Die Missbrauchsskandale haben die Kraft des Heiligen verschüttet; diese Kraft müssen die Kirchen wiedergewinnen. Das gilt für die evangelische Kirche, das gilt für die katholische Kirche. Und das ist die Aufgabe von Robert Francis Prevost, der abseits der geschilderten irrwitzigen Fantasien und Gedankenstreiche zum Papst gewählt worden ist und sich den Namen Leo XIV. gegeben hat.
Ein vitaler Typ
Das neue katholische Kirchenoberhaupt ist ein US-Amerikaner, geboren in Chicago, der von den amerikanischen Kardinälen wegen seiner 24 Jahre als Priester in Peru eher als Südamerikaner wahrgenommen wird. Er hat viel Leitungserfahrung, er ist polyglott, er ist ein bescheidener Kosmopolit. Er war Generalprior des Augustinerordens (aus dem einst auch Martin Luther stammte), dann Präfekt des vatikanischen Dikasteriums für die Bischöfe, also so eine Art weltweiter Personalchef der Kirche. Bei ihm mischen sich pastorale und internationale Erfahrungen, dazu kommt Verwaltungskompetenz. Das ist keine schlechte Mischung. Er ist 69 Jahre alt und ein passionierter Tennisspieler – ein vitaler Typ, einigermaßen jung für vatikanische Verhältnisse.
Vielleicht hat Papst Leo die Kraft, nach 60 Jahren ein neues Konzil einzuberufen. Das Letzte, das Zweite Vatikanische, wurde 1962 von Papst Johannes XXIII. eingesetzt; es hatte eine „pastorale und ökumenische Erneuerung“ der Kirche zum Ziel und dauerte bis 1965. Von „Aggiornamento“ hatte Johannes XXIII., der Papst damals, vor sechs Jahrzehnten, gesprochen: „Die Zeichen der Zeit erkennen“ – was etwas anderes war und ist, als sich dem Zeitgeist anzupassen. Es hämmern heute so viele Fragen an die Türen des Vatikans: Sie betreffen den Zölibat. Sie betreffen die Rolle der Frauen in der Kirche. Sie betreffen die Sexualmoral. Vielleicht wird Papst Leo diese Fragen einlassen.
„Mut zum Aufbruch“ hat die US-Bischöfin Mariann Edgar Budde ihre Rede beim Evangelischen Kirchentag in Hannover genannt. „Mut zum Aufbruch“ könnte im Prinzip auch der neue Bundeskanzler Friedrich Merz seine Regierungserklärung nennen, die er in der nächsten Woche im Bundestag halten wird – wenn sich nicht schon die Ampelkoalition, also die Vorgängerregierung von Olaf Scholz, als Aufbruchskoalition bezeichnet hätte. Entscheidend ist nicht einfach nur irgendein Mut, entscheidend ist, wohin der Aufbruch geht. Es muss ein Aufbruch zum inneren und zum äußeren Frieden sein.
Anfang vom Ende der Spaltung
Die Kirchen, die Katholische und die Evangelische, stehen vor einer anstrengenden Aufgabe: Sie müssen lernen, dass das Ende der Volkskirche, so wie es sie in Europa viele Jahrhunderte lang gegeben hat, nicht das Ende der Kirche ist. Gut wäre es, wenn dieses Lernen ein ökumenisches Lernen wäre, ein miteinander Lernen. Das könnte dann der Anfang vom Ende der über fünfhundertjährigen Spaltung sein.