Absturz und Wiederaufstieg: Wie aus Schulen wieder Lernorte werden – und warum die Digitalisierung eine Lehrkraft nicht ersetzen kann.

Von Heribert Prantl

Es wird zu viel über schlechte und zu wenig über gute Lehrer geredet. Es wird zu viel über digitale Aufrüstung diskutiert und zu wenig über personale Aufstockung. Ein guter Lehrer, eine gute Lehrerin, ist durch nichts zu ersetzen, auch nicht durch die notwendige Digitalisierung der Schule. Der Computer hat keine Persönlichkeit, eine gute Lehrkraft ist eine. Sie interessiert sich nicht nur für die Vermittlung des Lernstoffs, sondern auch für die Sorgen und Ängste der Kinder, weil sie weiß: Lernen braucht Vertrauen. Gute Lehrkräfte sind den Kindern und Jugendlichen auch schuldig, Leistung von ihnen zu verlangen. Das ist nicht gerade bequem. Aber darin, beides zusammenzubringen – darin besteht die Kunst. Gute Lehrkräfte sind Künstler, sie müssen aber auch gute Handwerker sein.

Es ist ein Glück, so eine gute Lehrerin und so einen guten Lehrer zu haben. Das deutsche Schulsystem krankt daran, dass diesem Glück nicht nachgeholfen wird. Gute Lehrkräfte brauchen eine Schulorganisation, in der sie gut sein können. Sie brauchen nicht ständig neue Aufgaben, sie brauchen mehr Freiheit – für eigene Ideen und guten Unterricht; sie brauchen Freiraum und Zeit für jeden einzelnen Schüler, für Projekte und für die Zusammenarbeit mit außerschulischen Einrichtungen. Lehrkräfte brauchen Freiheit; und sie führen ihre Schülerinnen und Schüler an einer langen, aber straffen Leine: Freiheiten ja, Frechheiten nein. Gute Lehrkräfte lernen mit und von ihren Schülern. Sie brauchen weniger Verwaltungsaufgaben, aber eine professionelle Schulleitung; und: Sie brauchen die Anerkennung der Gesellschaft.

Gute Lehrer sind nicht perfekt, aber sie sind begeistert von dem, was sie tun

Das alles steht nicht in der Pisa-Studie. Dort steht viel Wichtiges und Richtiges, dort steht viel richtig Erschreckendes. Dort steht aber nicht, dass ein Lehrer bei aller pädagogischen Leidenschaft und Begeisterung nicht wirklich gut sein kann, wenn er eine kastrierte Dreiviertelstunde lang vor dreißig Kindern steht und statistisch mit jedem nicht viel mehr als eine Minute „kommunizieren“ kann. Ein guter Lehrer könnte ein noch besserer Lehrer sein, wenn die Klassen erheblich kleiner wären und wenn er nicht bei jeder spontanen Initiative fragen müsste: „Ist das juristisch abgesichert?“ Solange das so ist und so bleibt, muss eine Lehrkraft vor allem eine kräftige Natur haben. Gute Lehrerinnen und Lehrer sind also die, die in einem ziemlich kranken System gesund bleiben. Sie sind nicht perfekt, sie sind nicht die Heiligen der Klassenzimmer, aber sie sind und bleiben begeistert von dem, was sie tun.

Ein Schüler muss die Gewissheit haben, dass er sich mit seinen Lücken und Schwächen, mit seinen Ängsten, seinen Sorgen und seinen Fragen zeigen darf, ohne dass sie ihm um die Ohren geschlagen werden. Das geht nur, wenn der Lehrer die Schüler mag und respektiert. Aber das wiederum setzt voraus, dass die Gesellschaft diesen Lehrerinnen und Lehrern zeigt, dass auch sie respektiert und geschätzt werden. Die Politik und die Kultusbürokratie sind dafür da, das Koordinatensystem dafür herzustellen; sie sollen, sie müssen die Voraussetzungen dafür schaffen, dass Pädagoginnen und Pädagogen gut sein können. Das funktioniert ganz offensichtlich nicht. Die Pisa-Studie hat soeben auch der deutschen Kultusbürokratie ein verheerendes Zeugnis ausgestellt: Im Lesen und im Rechnen waren nämlich die Ergebnisse die schlechtesten, die die Industrieländerorganisation OECD je für Deutschland ermittelt hat.

Nie zuvor haben die 15-Jährigen hierzulande so schlecht abgeschnitten wie dieses Mal. Der Anteil der Schülerinnen und Schüler, die nicht einmal die Mindestanforderungen erfüllen, ist in der Mathematik von 22 auf 30 Prozent gestiegen. „Diese Schüler können nicht einmal ausrechnen, ob sich ein Sonderangebot lohnt“, klagen die Bildungsforscher. Im Lesen fehlen die Basiskompetenzen bei jedem vierten Neuntklässler. Von einem „Abfall in nie dagewesenem Ausmaß“ spricht einer der Autoren der Studie. Deutschland findet sich beim Bildungsvergleich der Industrienationen erst auf Platz 25.

Leseschwächen, Rechenschwächen, Politikschwächen

Die Defizite an den Hauptschulen sind besonders krass. Die Hauptschule ist, anders als der Name sagt, nicht mehr Hauptschule, sondern Schule der Bildungsverlierer, der Großstadtkinder aus der Patchwork-Familie mit Migrationshintergrund, sie ist die Schule für Ausschluss und Ausschuss. Aber auch an den Gymnasien ist mitnichten alles in Ordnung. Zum ersten Mal hat Pisa, das Programm für internationale Schülerbewertung, auch dort bei einigen Prozenten der Schülerschaft Lese- und Rechenschwächen festgestellt. Die Ursache der Desaster: zu große Klassen, Personalmangel, verlorene Unterrichtsfreude bei Lehrern und Schülern, Frust bei den Pädagogen, Integrationsaufgaben ohne die nötigen Ressourcen.

Man kann den Eindruck haben, dass die Realität der Literatur nacheifert. Schon die ältere Literatur über Schulen, Schüler und Lehrer ist eine Schulhorrorliteratur: Die Klassenzimmer sind dort Schreckenskabinette, die Schule ist ein Ort der Bösartigkeiten, ein System der Demütigung. So ist es bei Heinrich und Thomas Mann, bei Torberg, Rilke und Hesse. In den Buddenbrooks sind die Lehrer grausame oder lächerliche Vernichter der Kindheit. In Wedekinds „Frühlings Erwachen“ heißen sie Sonnenstich, Knüppeldick, Knochenbruch und Hungergurt. Und das ist nicht unbedingt lustig gemeint. Das stammt aus der Zeit lange vor Pisa, das war also auch in den Zeiten so, die als die großen des deutschen Bildungswesens gelten.

Politiker begründen und entschuldigen die von Pisa festgestellten katastrophalen Mängel mit Corona und mit dem hohen Anteil der Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund; deren Anteil ist in der Tat in den vergangenen Jahren stark gestiegen. Aber: Es handelt sich um Ausreden. Deutschland hatte die Schulen in der Pandemiezeit länger geschlossen als jedes andere Land; zugleich fehlte aber die Technik für den Distanzunterricht. Und es fehlte und fehlt die gezielte, umfassende und nachhaltige Förderung der Kinder von Migranten schon in der Kita.

Digitale Aufrüstung ist wichtig, aber kein Allheilmittel

Zur Aufrüstung der Schulen gehört die profunde digitale Aufrüstung – aber auch die dringende Warnung davor, darin ein Allheilmittel zu sehen. Digitale Hilfsmittel können den Schulbetrieb bereichern, aber auch stören. Digitale Endgeräte haben, auch darauf hat die Pisa-Studie hingewiesen, ein starkes Potenzial, Kinder und Jugendliche abzulenken und die Konzentration zu zerstören.

„Ohne Konzentration gibt es kein Lernen.“ So sagt es der Neurowissenschaftler, Arzt und Psychotherapeut Joachim Bauer, der soeben in einem Beitrag für den Mannheimer Morgen darauf hingewiesen hat, was auch schon früheren Pisa-Studien zu entnehmen gewesen sei: In stark durchdigitalisierten Schulen werden schlechtere Lernergebnisse erzielt. Warum? Weil die Digitalität dann so oft das analoge Unterrichten ersetzt, statt es zu begleiten: „Die Aufmerksamkeit von Kindern und Jugendlichen binden können nur real anwesende, pädagogisch gut ausgebildete Lehrerinnen und Lehrer.“

Joachim Bauer formuliert die Präambel für die notwendige Fundamentalreform des deutschen Schulwesens: „Gute Lehrerpersönlichkeiten haben für Kinder einen durch nichts, auch nicht durch Lehrer-Roboter zu ersetzenden motivationalen ‚Nährwert‘.“ Das Glück, einen guten Lehrer zu haben, ist also nicht digital substituierbar. Ein guter Lehrer ist ein Künstler, weil Lehren eine Kunst ist. Diese Kunst kann der Digitalismus, diese Kunst kann künstliche Intelligenz nicht herstellen, sondern nur unterstützen. Der Respekt vor dieser Kunst und die Achtung vor dieser Kunst wird dazu führen, dass Deutschland von den hinteren Plätzen des Pisa-Rankings nach oben rückt.


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