Vor sechzig Jahren begann der Auschwitz-Prozess. Es war dies, zwanzig Monate lang, ein Blick in die Hölle auf Erden.

Von Heribert Prantl

Vor sechzig Jahren, kurz vor Weihnachten, begann ein Strafprozess, wie es bis dahin keinen gegeben hatte. Der Auschwitz-Prozess war ein Blick auf die und in die NS-Mordmaschinerie, es war ein Blick in die Hölle. An der Wand hinter der Richterbank hing ein Lageplan der Vernichtungsfabrik. 1,2 Millionen Menschen waren dort vergast, vergiftet, erschossen und erschlagen worden. Das Urteil umfasst in der Druckfassung vierhundert Seiten.

Der Sachverhalt wird dort, unter anderem, wie folgt geschildert: „Das Zyklon B befand sich in körnigem Zustand in verschlossenen Blechdosen. Die SS-Männer öffneten die Dosen unter dem Schutz von Gasmasken erst unmittelbar vor dem Einschütten. (…) Es entwickelten sich Blausäuredämpfe, an denen die in der Gaskammer befindlichen Menschen in wenigen Minuten qualvoll erstickten. Dabei spielten sich fürchterliche Szenen ab. Die Menschen, die nun merkten, dass sie eines qualvollen Todes sterben sollten, schrien und tobten und schlugen mit den Fäusten gegen die Türen und gegen die Wände. Da sich das Gas vom Boden des Vergasungsraums aus nach oben ausbreitete, starben die kleinen und schwächeren Menschen zuerst. Die andern stiegen dann in ihrer Todesangst auf die am Boden liegenden Leichen, um noch etwas Luft zu erhalten, bis sie selbst qualvoll erstickt waren. Um die Todesschreie der im Vergasungsraum befindlichen Menschen zu übertönen, ließ man beim kleinen Krematorium häufig Lastwagenmotoren laufen oder SS-Männer mit Motorrädern herumfahren.“ Dem Staatsanwalt versagte beim Schlussplädoyer die Stimme. Der Vorsitzende Richter wurde bei seiner Urteilsbegründung von Tränen übermannt.

Kein Geständnis, keine Reue

Fritz Bauer, der Generalstaatsanwalt, der den Strafprozess erzwungen hatte, wartete vergeblich auf ein menschliches Wort der Angeklagten. „Die Welt würde aufatmen“, sagte er, und „die Luft würde gereinigt“. Es gab aber kein Geständnis, keine Reue, keine Bitte um Verzeihung. Die NS-Schergen machten vor Gericht entweder keine Aussagen, sie erklärten sich für unschuldig oder beriefen sich auf Befehlsnotstand.

Der Prozess war der erste Versuch einer juristischen Aufarbeitung des Holocaust. Der Versuch war defizitär, die Strafen waren „Streichelstrafen für Mörder-Nazis“, wie der Philosoph Ernst Bloch kommentierte. Aber vielleicht waren die verhängten Strafen gar nicht von entscheidender Bedeutung. Von Bedeutung war der Blick in die Hölle und dessen Dokumentation, den die Anklage des hessischen Generalstaatsanwalts Fritz Bauer ermöglicht hat. Er war ein mutiger Mann, er hatte Zivilcourage, er trat an gegen die Schlussstrichmentalität der späten Fünfziger- und frühen Sechzigerjahre, er gehört zu denen, die zeigen, was ein Einzelner vermag. 357 Zeugen wurden gehört. Es existiert ein vollständiger Tonbandmitschnitt, er umfasst 430 Stunden Tonaufnahmen. Aufarbeitung? Ohne den Generalstaatsanwalt Fritz Bauer dürfte man das Wort „Arbeit“ gar nicht benutzen.

Warum hat er geschwiegen?

Ich weiß nicht, ob und wie in den Weihnachtsgottesdiensten Mitte der Sechzigerjahre über Auschwitz gepredigt worden ist. Ich weiß nicht, ob ein Geistlicher die Frage gestellt hat, warum Gott Vernichtung und Ausrottung zugelassen, warum er die braune Höllenmaschinerie nicht gestoppt hat. Mord und Totschlag durch Unterlassen? Ist Weihnachten der falsche Zeitpunkt für diese Frage? An Weihnachten ist Gott ein Kind, Gott in nuce sozusagen, entwicklungsfähig, aber noch nicht strafmündig. Man kann ihm deshalb alles anhängen, was man für schön hält: Lametta, Kugeln, Weihnachtswünsche – aber nicht das Schreckliche.

Drei Päpste haben Auschwitz besucht. Der polnische Papst Johannes Paul II. kam im Jahr 1979; der deutsche Papst Benedikt XVI. kam im Jahr 2006. Papst Franziskus kam im Jahr 2016. Er hielt keine Ansprache, feierte keinen Gottesdienst, er schwieg einfach, eine Viertelstunde lang, dann küsste er den eisernen Pfahl eines Galgens. Alle drei Päpste trieb die Frage um: „Warum hast du geschwiegen, Gott?“ Franziskus war vielleicht deswegen so still, weil es die Antwort nicht gibt. An der Wand einer Baracke im ehemaligen KZ Mauthausen bei Linz ist der bittere Satz eines damaligen Häftlings eingeritzt: „Wenn es einen Gott gibt, dann soll er mich um Verzeihung bitten!“


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