Wenn die Grünen das Finanzministerium der FDP überlassen, haben sie schon verloren. Klima-, Verkehrs- und Agrarwende werden verhungern. Sie sind die Partei der programmierten Enttäuschung.
Von Heribert Prantl
Ein Koalitionsvertrag ist nicht wirklich ein klassischer Vertrag. Es geht da nicht um einklagbare Ansprüche; es geht um das Sich-Vertragen der Regierungspartner. Die Grünen haben in den laufenden Verhandlungen schlechte Karten, weil sie mit ihren Kernanliegen von einem FDP-Finanzminister Christian Lindner finanziell an die Wand gedrückt werden. Darum und um meine journalistischen Erfahrungen mit Koalitionsverträgen geht es in dieser Kolumne.
Meine erste journalistische Erfahrung mit einem Koalitionsvertrag liegt lang zurück; es war im Januar 1991: Der energische Justizstaatssekretär und frühere BND-Chef Klaus Kinkel war soeben im Bundestag zu Bonn als neuer Justizminister im Kabinett von Helmut Kohl vereidigt worden. Ich saß erwartungsvoll in Kinkels sehr geräumigem Amtszimmer zu unserem ersten Interview; der Sessel in der Besucherecke war hart, der Ausblick schön, der Kaffee gut.
Wir plauderten vorab ein wenig, um warm zu werden miteinander. Kinkel erzählte von seiner Zeit als juristischer Spitzenbeamter, als rechte Hand von Hans-Dietrich Genscher, von seinen Jahren als Leiter des Ministerbüros und des Planungsstabs im Bundesinnen- und im Bundesaußenministerium. Er erzählte das nicht ohne Grund; er wollte auf diese Weise darlegen, dass er schon eine profunde Ahnung habe von der FDP, für die er jetzt im Bundeskabinett saß; er war nämlich erst wenige Tage vorher formell Mitglied dieser Partei geworden; zwei Jahre später wurde er dann, als Nachfolger von Otto Graf Lambsdorff, ihr Vorsitzender. Das alles war damals noch nicht absehbar, auch nicht die sechs Jahre Kinkels als Außenminister von Helmut Kohl und die holprigen FDP-Jahre, die noch folgen sollten.
Vorsicht, Umsicht
Mein Interview mit Kinkel war dann eine tour d’horizon durch die politischen Probleme der frühen Neunzigerjahre. Das Interview war geprägt von der Deutschen Einheit und wurde geführt im Schatten der „blühenden Landschaften“, die Kohl soeben versprochen hatte. Der Justizminister Kinkel versprach, so viel Justizpersonal wie nur möglich „hinüberzupumpen“ vom Westen in den Osten. Daneben warb er für einen „verfassungsrechtlichen Verzicht auf ABC-Waffen“ und „für ein kommunales Ausländerwahlrecht“; und er wehrte sich gegen jede Änderung des Asylgrundrechts.
Ich habe das Interview, das dann in der SZ-Wochenendausgabe vom 2./3. Februar 1991 erschien, noch einmal nachgelesen. Kinkel klingt da, wie es seine Art war, sehr entschlossen und sehr zupackend. Aber das täuscht. Die Szenerie im Amtszimmer war von Vor- und von Umsicht geprägt. Bei zwei, drei Fragen stand der neue Minister auf, bat um einen „Moment“, eilte wummernden Schrittes ans andere Ende des Zimmers zu seinem Schreibtisch, zog erst die eine, dann die andere Schublade auf, studierte ein paar Minuten in Papieren und kam dann mit der Antwort auf meine Frage zurück.
Des Rätsels Lösung: Kinkel hatte erstens im FDP-Programm und zweitens im Koalitionsvertrag nachgelesen, der soeben zwischen Helmut Kohl, Theo Waigel und Otto Graf Lambsdorff für die CDU, die CSU und FDP geschlossen worden war; den Koalitionsvertrag kannte Kinkel noch nicht so genau. Er wollte nicht schon in seinen ersten Amtswochen aus der Reihe tanzen; und wo er es denn tat, wollte er wissen, dass er es tat. Den nächsten Koalitionsvertrag, den von 1994, kannte Kinkel dann schon viel genauer; er war nämlich dann schon der Chefverhandler für die FDP.
Ein Vier-Jahres-Programm
Ein Koalitionsvertrag ist also, so lernte ich damals, nicht einfach das Butterbrotpapier fürs Kabinettsfrühstück. Es ist ein Leitfaden, ein Vier-Jahres-Programm, ein Regierungsprogramm. Und das Wort Programm kommt nicht von Gramm; ein Regierungsprogramm muss Gewicht haben – nicht physikalisch, sondern inhaltlich. Es muss die Wesentlichkeiten, nicht die Nebensächlichkeiten des Regierens auflisten. Und es muss Geld da sein für die Hauptanliegen des Programms.
In der Kürze lag die Würze
Man wird das rot-grün-gelbe Koalitionspapier, das wohl in der kommenden Woche fertig und vorgestellt werden wird, danach abklopfen, man wird wägen, wer von den Koalitionspartnern wie viel durchgesetzt hat und was daraus für das weitere Schicksal der Regierungskoalition folgt. So ein Koalitionsvertrag muss nicht fast zweihundert Seiten haben, wie das in jüngerer Zeit üblich geworden ist. Der folgenreichste Koalitionsvertag in der Geschichte der Bundesrepublik war ganze neun Seiten dünn; er wurde 1961 zwischen CDU/CSU und FDP geschlossen und sah vor, dass „der Vorsitzende der CDU, Dr. Konrad Adenauer, das Amt des Bundeskanzlers nicht für die ganze Dauer der Legislaturperiode bekleiden wird.“ So war es dann auch. In der Kürze lag die Würze.
In den Anfangsjahren der Republik hatten für Koalitionsabsprachen noch ein paar Briefe genügt. Die erste große Koalition von 1966 unter Kanzler Kurt Georg Kiesinger verzichtete gar komplett auf einen förmlichen Vertrag; stattdessen gab es eine Mitteilung an die Presse und die Gründung des „Kressbronner Kreises“; das war der Koalitionsausschuss, benannt nach seinem ersten Tagungsort am Bodensee, in dem bei einem gemeinsamen Essen die Probleme der Großen Koalition aus dem Weg geräumt werden sollten. Aber 1961 und 1966 taugen nicht mehr unbedingt als Vorbild für heute.
Müssen es zweihundert Seiten sein?
Die Detailverliebtheit der Koalitionsverträge von heute ist freilich auch nicht der Weisheit letzter Schluss. Der Koalitionsvertrag für das erste Kabinett Merkel von 2005 zwischen CDU/CSU und SPD hatte 191 Seiten; der von 2017/18 auch zwischen CDU/CSU und SPD hatte 179 Seiten. In der Länge und der Zahl der Spiegelstriche spiegeln sich Vorsicht und Argwohn – und bisweilen auch der Frust darüber, dass das Wahlergebnis einem diese Koalition aufgedrängt hat. Und es geht im Koalitionsvertrag natürlich auch darum, der eigenen Klientel erste Erfolge zu präsentieren nach dem Motto: „So stark sind wir in dieser Regierung.“
Wie Lindner die Grünen an die Wand drückt
Eine Koalition soll ein Bündnis auf Gedeih sein, nicht auf Verderb. Aber was „Gedeih“ ist – das interpretiert, spürt und bewertet jeder Koalitionspartner anders. Das macht eine Dreierkoalition, wie sie sich jetzt zum ersten Mal realisiert, besonders sensibel. Des einen Gedeih kann des anderen Verderb sein. Bei der Klimawende und den dafür notwendigen ungeheuren Investitionen ist das so. Die Grünen wollen sie, koste es, was es wolle. Die FDP aber will die Klimawende kostenneutral, also im Zweifel lieber nicht. Weil sich, wie es aussieht, die FDP das Finanzministerium gesichert hat, sitzt sie am längeren Hebel. Mit Christian Lindner als Finanzminister verändern sich die Kräfteverhältnisse in der Regierung: Aus der FDP, die eigentlich mit einem Wahlergebnis von 11,5 Prozent nur die Nummer drei der Koalition ist, wird die Nummer zwei plus. Aus der grünen Partei, die eigentlich mit einem Wahlergebnis von 14,8 Prozent die Nummer zwei ist, wird die Nummer drei minus. Da mögen die Grünen mit Ministerien prunken, die wohlklingende Namen tragen: Lindner kann einem Klimaministerium den Geldhahn auf- und zu drehen. Wolfgang Schäuble hat einst als Finanzminister im zweiten Kabinett Merkel die FDP an die Wand gedrückt. In diese Situation kommen die Grünen unter einem Finanzminister Lindner.
Der Koalitionsvertrag markiert den Auftakt des gemeinsamen Regierens – und er hat zugleich schon das Finale im Auge, weil jeder Koalitionspartner am Ende gut dastehen will. Im Idealfall steckt daher im Koalitionsvertrag schon eine ungeschriebene Verlängerungsoption, er weist über die laufende Legislaturperiode hinaus; er ist dann der Beginn eines längeren gemeinsamen Regierens. Der FDP-Vorsitzende Christian Lindner hat soeben erklärt, dass man das Ampel-Bündnis für mehr als eine Wahlperiode anstreben solle: „Eine Koalition sollte mit der Absicht antreten, gemeinsam wiedergewählt zu werden“, sagte er der Süddeutschen Zeitung. Wenn man es anders angehe, führe das zu koalitionsinternem Wettbewerb: „Das schwächt eine Konstellation insgesamt.“
Die Partei der programmierten Enttäuschung
Das klingt gut – signalisiert aber zugleich, dass Lindner recht zufrieden ist mit dem, was die FDP bisher in den Koalitionsgesprächen erreicht hat. Für die Grünen dürfte das nicht so gelten. Der Erwartungsdruck, der bei der Klimawende und bei der Verkehrswende auf ihnen lastet, ist ungeheuer; sie könnten dem als Kanzlerpartei kaum gerecht werden; schon gar nicht als Partei, die sich in den Koalitionsgesprächen von der Nummer zwei zur Nummer drei hat degradieren lassen. Die Grünen sind die Partei, die die meisten finanziellen Forderungen hat – Klimawende, Verkehrswende, Agrarwende. Sie sind die Partei, die von der SPD und der FDP in die Zange genommen wird. Und sie sind die Partei, der „Fridays for Future“ im Nacken sitzt. Sie sind also die Partei der programmierten Enttäuschung – und daher wohl der instabilste Partner der neuen Regierung.
Viel Gesellschaftspolitik, wenig Klimapolitik
Am Anfang werden die von den Grünen erreichten gesellschaftspolitischen Errungenschaften im Koalitionsvertrag von den urgrünen Defiziten ablenken. Ja gewiss: Es gibt die Novitäten in der Migrationspolitik, im Staatsbürgerschaftsrecht, bei Emanzipation und Gleichberechtigung; es gibt die Fortschritte im Adoptionsrecht für LGBTQ, es gibt die Entkriminalisierung im Drogenrecht. Das wird von der FDP mitgetragen, die damit an ihre Liberalität von einst anknüpft. Aber das sind mittel- und langfristig nicht die Fragen, an denen die Grünkraft der Grünen gemessen wird.
Die Situation der Grünen in der neuen Dreierkoalition unter Kanzler Scholz gemahnt an ihre Situation in der rot-grünen Koalition unter Gerhard Schröder im Jahr 1998: Sie dachten, sie wären an der Macht, aber sie waren nur in der Regierung. Das Machtspiel um die Klima-, die Verkehrs- und die Agrarwende haben sie schon jetzt, im Herbst 2021, verloren. Wir erleben den Chlorophyll-Schwund bei den Grünen.