Julia Klöckner sind die Kirchen zu politisch. Dürfen sie nur zu religiösen Themen reden? Der verstorbene Papst stand in einer anderen Tradition. 

Von Heribert Prant

Vor knapp vier Wochen ist Julia Klöckner (CDU) zur Bundestagspräsidentin gewählt worden. Es gab Kritiker, die daran gezweifelt haben, ob sie dieser Aufgabe gewachsen ist. In ihren ersten Amtsstunden, bei der Eröffnungssitzung, gelang ihr das ganz gut.

Zwei Wochen später hat sie dem Domradio in Köln als „bekennende Katholikin“, wie es dort hieß, ein Interview gegeben, in dem sie die Kirchen davor gewarnt hat, „eine weitere NGO zu sein“. Sie meinte damit, dass die Kirchen sich tunlichst nicht zur Tagespolitik äußern und lieber „Seelsorge“ betreiben sollten. Sie sollten sich also um die Seelen der Menschen kümmern und nicht um Politik.

Ich habe ihr im Domradio widersprochen und tue es auch hier, weil Seelsorge nichts Apolitisches ist – der soeben verstorbene Papst Franziskus hat das immer wieder deutlich gemacht. Seelsorge ist die Sorge um das Schicksal von Menschen. Es ist also Seelsorge, Frieden zu stiften; es ist Seelsorge, Flüchtlinge zu schützen; und es ist Seelsorge, die Schöpfung zu bewahren. Klöckner, eine studierte Theologin, hat dann am Osterwochenende in einem Interview mit Bild am Sonntag ihre Kritik wiederholt und verschärft. Die Kirchen würden sich zu oft zu politischen Themen äußern, statt Trost zu spenden: „Dafür zahle ich keine Kirchensteuer“.

In der Tradition des heiligen Zorns

Margot Käßmann, die frühere evangelische Landesbischöfin und Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche Deutschland, hat kürzlich geschrieben: „Wenn erklärt wird, Kirche solle sich auf das Eigentliche konzentrieren und dürfe nicht politisch sein, erscheint mir das als Widerspruch zur Verkündigung Jesu.“ Der Satz steht in einem im März 2025 erschienen Buch unter dem Titel „Warum heute Christ*in sein?“, in dem 22 mehr oder minder prominente Zeitgenossen darauf ihre Antworten geben. Es ist dies wie eine Antwort auf Klöckners Klage.

Klöckners Klage über eine zu politische Kirche verkennt das Wesen und die Aufgabe der christlichen Kirchen: Das Evangelium ist politisch, die Bergpredigt ist politisch, die Propheten sind politisch. Sie sagen die unangenehmen Wahrheiten, die keiner hören will; sie sprechen aus, was kommen wird, wenn alles so weitergeht – nicht weil sie wahrsagerisch in die Zukunft blicken, sondern weil sie aufmerksam ihre Gegenwart betrachten. Sie waren, sie sind so radikal politisch, wie sich heute das kaum ein Bischof zu sein getraut – es sei denn er ist Bischof von Rom, also Papst, und kritisiert den globalen Kapitalismus.

Der verstorbene Papst Franziskus stand da in der Tradition des Jesus, der mit heiligem Zorn im Tempel steht, die Tische umstürzt und die Händler und Geldwechsler hinaustreibt, die das „Haus des Vaters“ zur Räuberhöhle gemacht haben. Das war nicht die Aktion eines Randalierers, sondern eine prophetische Zeichenhandlung gegen ein korruptes System: Die kleinen Leute mussten damals ihre römischen Münzen umwechseln in eine Tempelwährung; den Kurs dafür setzten die fest, die davon profitierten. So verdienten sich die Großen des Tempelsystems dumm und dämlich.

Mit Bulldozern oder mit Hedgefonds

„Diese Wirtschaft tötet“, sagte Papst Franziskus über den Kapitalismus von heute. Er kritisierte einen radikalen Kapitalismus, der alles platt walzt, ob mit Bulldozern oder mit Hedgefonds. Deshalb sagte er in seinem Lehrschreiben „Evangelii Gaudium“ Nein zu einer sozialen Ungleichheit, die Gewalt hervorbringt. Deshalb sagte er Nein zu einer Vergötterung des Geldes. Deshalb proklamierte er ein Konzept der solidarischen Ökonomie auf der Basis des Evangeliums. Zu politisch?

In seiner Enzyklika „Laudato si“, einem Lobpreis der Ökologie, erklärte Papst Franziskus die Atmosphäre, die Regenwälder und die Ozeane zum globalen Eigentum, dem privaten Eigentum übergeordnet. Er mahnte eindringlich zum sorgsamen Umgang mit der Umwelt. Zu politisch? In der Enzyklika „Fratelli tutti“ verurteilte er den Krieg, erklärte er die Herstellung und den Besitz von Atomwaffen für moralisch verwerflich. Zu politisch? Papst Franziskus hat die europäische Flüchtlingspolitik kritisiert, die auf den Überlebens- und Freiheitsdrang der Flüchtlinge mit organisierter Verantwortungslosigkeit antwortet und den Tod im Meer nolens volens als Teil einer Abschreckungsstrategie in Kauf nimmt. Der Papst sah diese Flüchtlingspolitik von einem Ungeist beherrscht. Zu politisch?

Seine erste Reise führte ihn nach Lampedusa, auf die Insel an der Südspitze Italiens. Er betete für die dort gestrandeten und ertrunkenen Flüchtlinge, er hielt dort seine berühmte Rede gegen die „Globalisierung der Gleichgültigkeit“. Darin forderte er alle Länder zu „großzügiger Offenheit“ auf und dazu, legale Reisemöglichkeiten zu entwickeln; „Korridore“ nannte er sie – und entwickelte ein Programm zur Fluchtursachenbekämpfung. Zu politisch? Bei einem Besuch des Flüchtlingslagers Moria auf der griechischen Insel Lesbos sprach er von der Hoffnung, „dass die Welt diese Szenen tragischer und so verzweifelter Not beachtet und auf eine Weise reagiert, die unserer gemeinsamen Menschlichkeit würdig ist.“ Er flehte, er klagte, er betete. Er tat es in bewegenden Worten; aber er bewegte damit nicht viel. Weil er zu politisch war?

Eine Kirche der Innerlichkeit?

Julia Klöckner ist das alles offenbar zu viel. Das alles ist für sie wohl Tagespolitik, aus der sich die Kirchen heraushalten sollten. Und wenn sie ein Werben der Kirchen für ein Tempolimit auf deutschen Autobahnen spöttisch kritisiert, weil das mit dem Auftrag der Kirchen nichts zu tun habe? Dieses Werben hat viel damit zu tun, die Schöpfung zu bewahren.

Aber darum geht es Klöckner nicht. Der Beschluss ist schon so alt, dass Klöckner nicht mehr weiß, für welches Tempo die Synode der EKD geworben hat. Sie dürfte aber sehr wohl noch die gesalzene Kritik im Ohr haben, die beide Kirchen gemeinsam Ende Januar veröffentlichten, als Friedrich Merz seine Verschärfung der Migrationspolitik zusammen mit der AfD durch den Bundestag bringen wollte. Ein Schelm, wer ahnt, dass Klöckner daran jetzt nicht so gern erinnern mag, aber umso lieber nachkarten. Politisch werden darf die Kirche, wenn es nach Klöckner geht, „wenn es um das ungeborene Leben geht oder das Leben, das den letzten Atemzug macht“. Wenn die Stimmen der Kirchen für die ethischen Fragen an den Rändern des Lebens wichtig sind, warum dann nicht auch und erst recht bei den Fragen in der Mitte des Lebens?

Mit ihrer Meinung ist Klöckner nicht in der Mehrheit. 75 Prozent der evangelischen und katholischen Kirchenmitglieder finden, dass sich die Kirchen nicht nur mit religiösen Themen befassen sollten. Auch Menschen, die mit Religion wenig anfangen können, weisen den Kirchen eine wichtige soziale und gesellschaftliche Rolle zu. Die überwiegende Mehrheit aller Kirchenmitglieder und Konfessionslosen begrüßt zum Beispiel den konsequenten Einsatz der Kirche für Geflüchtete. Das hat die über Konfessionsgrenzen hinweg angelegte Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung 2023 der EKD ergeben.

Die Bundestagspräsidentin Klöckner ist weniger bei Papst Franziskus als bei seinem Vorgänger Benedikt zu Hause; der war der konservative Repräsentant einer alten Kirche der Innerlichkeit. Julia Klöckner warnt die Kirchen davor, „eine weitere NGO zu sein“. Aber: Sie sind, Gott sei Dank, NGOs. Sie sind Nichtregierungsorganisationen – und nicht Regierungsorganisationen. Sie sind die größte NGO. Allein die katholische Kirche zählt weltweit 1,4 Milliarden Mitglieder. Sie hat sich in Deutschland lange genug als eine der Regierung jedenfalls nahestehende Organisation verstanden – und hat in Hirtenbriefen der Bischöfe erst explizit, später verdeckt und trotzdem eindeutig für die Wahl der C-Parteien geworben. Das war in den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg so und das ging bis in die 70er-Jahre des letzten Jahrhunderts hinein. Heute ist es so: Nicht die Kirche ist zu politisch, sondern die Politik der CDU/CSU ist zu wenig christlich. Und Julia Klöckner denkt zu schmalspurig.


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