Vor 60 Jahren wurde Rudolf Augstein nach 103-Tagen U-Haft aus dem Gefängnis entlassen. Heute ist sein ehemaliges Sturmgeschütz der Demokratie auf dem Kriegspfad.

Von Heribert Prantl

„Jedes Ding hat drei Seiten: eine negative, eine positive und eine komische“: Der Satz stammt von Karl Valentin. Beim sogenannten Spiegel-Skandal, der vor nun genau sechzig Jahren zum Strauß-Skandal wurde, sind die drei Seiten gut zu betrachten: Der angeblich hauptverdächtige Landesverräter Rudolf Augstein wurde am 7. Februar 1963, nach 103 Tagen Untersuchungshaft, aus dem Gefängnis entlassen.

Vom angeblichen Landesverrat durch den Spiegel war nichts mehr übrig geblieben. Der publizistische „Abgrund an Landesverrat“, von dem Konrad Adenauer und Franz Josef Strauß wegen eines Spiegel-Artikels über den Zustand der Bundeswehr („Bedingt abwehrbereit“) schwadroniert hatten, war in Wahrheit ein Abgrund an Machtmissbrauch.

Jedes Ding hat drei Seiten. Beginnen wir mit der negativen Seite: Im Herbst 1962 organisierte Franz Josef Strauß, damals Verteidigungsminister der Regierung Adenauer und Chef der CSU, die polizeiliche Besetzung des Spiegel und die Verhaftung der führenden Köpfe des Hamburger Nachrichtenmagazins. Es war dies ein brachialer politischer Anschlag auf die Pressefreiheit, bei dem der Ermittlungsrichter am Bundesgerichtshof in Karlsruhe willfährig und täppisch mitmachte: Polizei im Sturmschritt, Verhaftungen in der Dunkelheit – das durfte eigentlich nicht wahr sein.

Geben Sie Gedankenfreiheit!

Als zuletzt die Verlagshäuser in Deutschland besetzt und geschlossen worden waren, hatten draußen die braunen Bataillone gedröhnt – so erinnerte der Spiegel-Redakteur Joachim Schöps bei seiner Nacherzählung der „Spiegel-Affäre des Franz Josef Strauß“ in einem Rowohlt-Buch von 1983.

Er zitiert darin Nikolas Benckiser, den Redakteur und späteren Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: „Es ist eindrucksvoll, wenn man in einer Freitagnacht um ein Uhr von einem Unbekannten aus Hamburg angerufen wird, der in abgerissenen Sätzen in höchster Erregung von der großen Polizeiaktion gegen das Nachrichtenmagazin berichtet, um den Journalisten mit der Frage zu bestürmen, ob es an der Zeit sei, auszuwandern, wie es 1933 Zeit gewesen wäre.“

Die Süddeutsche Zeitung meinte damals: „Die Art des Vorgehens gegen den Spiegel ist ein für sämtliche Rechtsstaaten des 20. Jahrhunderts beispielloser Vorgang …“, das sei eine „Zeitbombe, um unter dem Mantel des Rechts eine periodische Druckschrift und ihre maßgeblichen Leute zur Strecke zu bringen“. Strauß hielt den Bundestag und die Öffentlichkeit („Ich habe mit der Sache nichts zu tun“) tagelang mit Falschauskünften zum Narren.

Die Affäre rüttelte die Republik wie kein anderes Ereignis bis dahin. Als bei einer Aufführung von Rossinis „Liebesprobe“ in der Hamburger Staatsoper ein Darsteller auf der Bühne sagte: „Es ging um die Pressefreiheit“, erhoben sich die Herrschaften im Parkett und klatschten donnernd Beifall. Bei der Don-Carlos-Aufführung im Schauspielhaus geschah das auch, als der Satz fiel: „Sire, geben Sie Gedankenfreiheit.“

Nicht der „Spiegel“ ging ein, sondern Strauß musste gehen

Damit kommen wir zur positiven Seite der Sache: Strauß kam nicht durch mit seinem Versuch, eine Zeitschrift beiseitezuräumen, weil sie ihm im Weg war. Die Bürger waren empört, entsetzt und außer sich. Sie standen auf, protestierten, demonstrierten: „Spiegel tot, Freiheit tot“. Nicht der Spiegel ging ein, wie es Strauß gewollt hatte, sondern Strauß musste als Minister gehen – und der Obrigkeitsstaat musste abdanken.

Und das ist das Komische, das Verrückte an dieser Angelegenheit: Strauß hat die Bundesrepublik durch seine Maßlosigkeit gegen den Spiegel, seinen Herausgeber und seine Redakteure demokratisiert. Es ist dies das unfreiwillige Verdienst dieses Mannes, der die Republik atomar hatte aufrüsten wollen, der den Spiegel und seine Leute als „die Gestapo im Deutschland unserer Tage“ bezeichnete (in einem Interview mit dem israelischen Blatt Haaretz) und deshalb angeblich „gezwungen“ war, „gegen sie zu handeln“.

Noch in seinen Memoiren gab sich Strauß unbelehrbar: „Ich bin damals behandelt worden wie ein Jude, der es gewagt hätte, auf dem Reichsparteitag der NSDAP aufzutreten.“ Strauß tat so, als habe nicht Rudolf Augstein, sondern er 103 Tage in U-Haft gesessen. Er mobilisierte mit seinem Tun zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik die kritische Öffentlichkeit. Das Jahr der Spiegel-Affäre, das 13. Jahr der Bundesrepublik, wurde zu einem Wendejahr. Seitdem muss die bundesdeutsche Politik mit dem Bürger rechnen.

Als deutscher Tag der Pressefreiheit sollte der 5. August gelten; der Tag erinnert an das Spiegel-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das dann dreieinhalb Jahre nach der Haftentlassung des Spiegel-Herausgebers im Jahr 1966 erging und den rechtlichen Freiraum der Presse mit zukunftsweisenden Sätzen erweiterte – nachdem zuvor schon der Bundesgerichtshof die Eröffnung eines Strafverfahrens gegen Augstein und Co. abgelehnt hatte: „Eine freie, nicht von der öffentlichen Gewalt gelenkte, keiner Zensur unterworfene Presse ist ein Wesenselement des freiheitlichen Staates; insbesondere ist eine freie, regelmäßig erscheinende Presse für die moderne Demokratie unentbehrlich …“.

Zuckerguss aus Karlsruhe

Das Karlsruher Urteil hat gleichwohl einen Makel: Es wies die Verfassungsbeschwerde des Spiegel gegen die Durchsuchung, gegen die polizeiliche Besetzung der Spiegel-Redaktion, gegen die Verhaftung von Augstein und von leitenden Spiegel-Redakteuren zurück. Nur vier der acht Richter stimmten der Verfassungsbeschwerde zu, vier nicht.

Bei solcher Stimmengleichheit gilt eine Verfassungsbeschwerde als abgelehnt. Die schönen Worte über die Pressefreiheit in diesem Urteil waren erst einmal nur der Zuckerguss auf dem ablehnenden Urteil; langfristig aber wurde daraus dessen Substanz, getragen und bereichert vom Votum der vier wegen Stimmengleichheit unterlegenen Richter. Erstmals in der Geschichte des Verfassungsgerichts hatten die vier Abweichler ihre Gründe im Anhang des Urteils offen dargelegt, obwohl das damalige Recht ein Sondervotum gar nicht kannte.

Es war ein sehr kalter Winter damals, als Augstein erst in Hamburg, dann in Koblenz, dann in Karlsruhe in Untersuchungshaft saß: Seine damalige Lebensgefährtin und spätere Ehefrau Maria Carlsson fuhr ihm nicht nur selbstgekochte Suppe ins Gefängnis, sondern strickte ihm auch einen Nasenwärmer aus gelber Wolle, den er dann auf dem Hofgang trug, mit Gummibändern an den Ohren festgehalten.

Ermittelnder Staatsanwalt war der damals noch weitgehend unbekannte Siegfried Buback, der später Generalbundesanwalt war und von der RAF ermordet wurde. Als Augstein aus der Haft entlassen und die Ermittlung gegen ihn am Auslaufen war, hat er seinen Verfolger zum Mittagessen eingeladen. Buback telefonierte mit der ihm gelegentlich eigenen Schlitzohrigkeit zurück: „Bin nur noch bedingt abwehrbereit.“

Die Erinnerungen von Maria Carlsson-Augstein an Buback sind nicht so positiv. Er hat sie, weil sie über den Verbleib von bestimmten Papieren nicht Auskunft geben wollte, zwecks Beugehaft in Hamburg in eine Arrestzelle sperren lassen, zusammen mit betrunkenen Prostituierten von der Reeperbahn.

Das ehemalige Sturmgeschütz

Noch während Augstein in Haft saß, zum Jahresende 1962, kletterte die Auflage des Spiegel erstmals über 500 000, später überstieg sie die Millionenschranke. Augstein nannte sein Magazin „Sturmgeschütz der Demokratie“. Jahrzehnte später, im Januar 2022, erklärte der heutige Spiegel-Chefredakteur Steffen Klusmann, er würde sein Magazin heute nicht mehr so bezeichnen. Das entspreche nicht mehr dem Vokabular des Nachrichtenmagazins, sagte Klusmann im Zapp-Interview. Dafür wirbt der Spiegel heute kräftig für die Lieferung von immer mehr schweren Waffen aus Deutschland in die Ukraine.


Newsletter-Teaser

Spread the word. Share this post!