US-Präsident Trump treibt die EU-Staaten in den Notstand und zwingt sie, sich selbst aus dem weltpolitischen Sumpf zu ziehen.

 

 

Von Heribert Prant

Von den sieben Weltwundern des Altertums haben sechs nicht überlebt: nicht die Hängenden Gärten der Semiramis. Nicht der Koloss von Rhodos. Nicht das Grab des Königs Mausolos. Nicht der Leuchtturm der Insel Pharos. Nicht der Tempel der Artemis in Ephesos. Nicht die Zeus-Statue von Olympia. Erhalten sind nur die Pyramiden von Gizeh.

Ein Weltwunder der Neuzeit ist die Europäische Union, ein Weltwunder der Neuzeit ist das Europäische Parlament. In diesen Wochen und in diesen Monaten entscheidet sich, was und wie viel von diesem komplexen Weltwunder in einer vom amerikanischen Präsidenten Donald Trump betriebenen Weltunordnung noch übrigbleibt. Die Stabilisierung Europas, die einer Neugründung gleichkommt, muss nun in einer Zeit geschehen, die dafür nicht viel Zeit lässt. Trump hat mit seiner Putin-Scharwenzel-Politik Europa in den Ausnahmezustand gestürzt; er hat die Ukraine verraten, er hat die Nato infrage gestellt, die so manchen EU-Mitgliedsstaaten sehr viel wichtiger war und ist als die Europäische Union. Er hat in wenigen Wochen das gesamte Koordinatensystem der Politik verbogen, die bisher die „westliche“ hieß.

„Fuck the EU!“, sagte die US-Diplomatin Nuland

Europa und die USA waren schon vor Trump nicht per se eine Wertegemeinschaft, ihre Beziehung war schon vor Trump nicht per se eine Liebesbeziehung. Das zeigte sich zum Beispiel 2014, als die einflussreiche US-Diplomatin Victoria Nuland, damals im US-Außenministerium zuständig für Europa und Eurasien, in einem abgehörten Telefonat mit dem US-Botschafter in der Ukraine ausrief: „Fuck the EU!“ Das war im Februar jenes Jahres, damals hieß der US-Präsident Barack Obama. Der gewiefte deutsche Außenpolitiker Egon Bahr kommentierte: „Unsere Emanzipierung von Amerika wird damit selbstverständlich und unabweisbar. Unsere Selbstbestimmung steht jedoch neben und nicht gegen Amerika.“ Das kluge Wort verhallte.

Mit Sicherheit gibt es nicht mehr Sicherheit in Europa und der Welt, wenn die europäischen Staaten in nationalen Außenpolitiken ihr Heil suchen. Das Gegenteil ist richtig: Das ist nicht take back control, das ist give up control. Es muss eine gemeinsame europäische Außen- und Sicherheitspolitik geben. Im Jahr 2018 hat die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel in ihrer Rede vor dem Europaparlament gefordert, „eines Tages eine echte europäische Armee zu schaffen“. Eines Tages ist jetzt. Es drängt die Zeit. Aber Europa muss zugleich lernen, dass Sicherheit nicht allein durch militärische Abschreckung zu erreichen ist. Wir können den Frieden nur sichern, wenn wir auch mit denen reden, deren Herrschaftsmethoden uns nicht gefallen.

Das Europa der Europäischen Union ist das Beste, was Europa in seiner langen Geschichte passiert ist. Dieses Europa ist die Verwirklichung so vieler alter Friedensschlüsse, die den Frieden dann doch nicht gebracht haben. Die Europäischen Verträge sind die Ehe- und Erbverträge ehemaliger Feinde. Die EU ist das Ende eines fast tausendjährigen Krieges, den fast alle gegen fast alle geführt haben. Die Geschichte der EU ist eine Geschichte der Quadratur des zerstörten Kreises. Aber das bleibt nicht so, wenn einfach alles so bleibt, wie es ist. Deswegen sind die Pläne des französischen Präsidenten Emmanuel Macron zur „Neugründung eines souveränen, geeinten und demokratischen Europas“ richtig.

Charles de Gaulle hatte recht

Beim Nachdenken darüber lohnt es sich, die deutsch-französische und europäische Nachkriegsgeschichte zu studieren und zu lernen, dass de Gaulle recht hatte. Wie sehr er recht hatte, zeigt sich heute, in trumpischen Zeiten. Charles de Gaulle, französischer General und Präsident von 1959 bis 1969, träumte von einem starken europäischen Europa, das sich von den USA nicht vereinnahmen lässt. Und er träumte nicht nur, er wollte es realisieren, zusammen mit Konrad Adenauer, dem deutschen Bundeskanzler. Die deutsch-französische Versöhnung und Freundschaft, 1962 in der Kathedrale von Reims feierlich zelebriert, galt ihm als Einstieg in diese Realvision.

Der Élysée-Vertrag war für de Gaulle die Choreografie für dieses Projekt, der Vertrag sollte die Perspektiven formulieren – Deutschland und Frankreich als Kernzelle des europäischen Projekts, mit einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik unter anderem und einer gemeinsamen Staatsbürgerschaft. Adenauer hatte ja schon 1955 in einem Regierungsbulletin erklärt: „Die Zeit des Nationalstaats ist vorüber. Wir haben nur noch zwischen Untergang und Einigung zu wählen.“

Aber in Zeiten der Berlinkrise, des Mauerbaus und der sowjetischen Hochrüstung war das De-Gaulle-Projekt der bundesdeutschen Politik zu gewagt. Der Élysée-Vertrag wurde daher sehr abgespeckt, und auf Drängen der deutschen Transatlantiker wurde eine amerikafreundliche Präambel zum Vertrag geschrieben, in der festgehalten wurde, dass Deutschland auf seiner engen Bindung an die USA beharre. Dass Jahrzehnte später die Vereinigten Staaten sich ihrer engen Bindung an Deutschland entledigen könnten – das war bis jetzt unvorstellbar.

Das europäische Gen verkümmerte

Europa wurde größer und größer, aber politisch nicht unbedingt stärker und souveräner. Kanzler Helmut Schmidt und Präsident Valéry Giscard d’Estaing legten zwar die Grundlagen für die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion, Kanzler Helmut Kohl und Präsident François Mitterrand übten kraftvoll den deutsch-französischen Gleichschritt und begründeten im Vertrag von Maastricht die Europäische Union. Das waren bemerkenswerte Fortschritte hin zu einem vereinten Europa.

Aber dann, nach dem Zerfall der Sowjetunion und der Ost-Erweiterung der EU begann in Deutschland das europäische Gen zu verkümmern: Angela Merkel pflegte es wenig, Olaf Scholz so gut wie gar nicht. Die EU-Kommission wurde mächtiger denn je, weil von den EU-Mitgliedstaaten, vom Europäischen Rat, kaum noch politische Initiativen ausgingen; doch die Kommission war und ist nicht mächtig genug, große Strategien für eine eigenständige Rolle Europas in der Weltpolitik zu entwickeln.

Und so kam es, dass der französische Präsident Emmanuel Macron im Frühjahr 2017 in einer großen Rede vor den Studenten der Pariser Universität Sorbonne einen drastischen Appell formulierte: „Das Europa, das wir kennen, ist zu langsam, zu schwach, zu ineffektiv“ – und eine Neupositionierung Europas forderte – er sprach unter anderem von einem gemeinsamen Militär, von einer europäischen Armee. In Deutschland wurden solche Ideen herablassend behandelt und als präsidentielle Propaganda abgetan – gerade so, als sei es etwas Schlechtes, leidenschaftlich Propaganda für Europa zu machen.

Es geht aber nicht um Propaganda. Es geht um die Existenzsicherung Europas in einer sich dramatisch wandelnden Welt. Man kann und darf nicht einfach vier Jahre Trump abwarten. Es kann sein, dass dieser Zeit acht Jahre einer Präsidentschaft von J.D. Vance, dem heutigen Vizepräsidenten, folgen. Die Zukunft Europas heißt daher Europa. Diese Zukunft zu realisieren, wird ungeheuer schwer sein. Aber vielleicht, hoffentlich, ist der Trump-Schock ein heilsamer Schock. „Wir haben nur noch zwischen Untergang und Einigung zu wählen“, sagte einst Adenauer. Das ist die dramatische Situation, in der sich die neue Bundesregierung befindet. Es ist zu hoffen, dass sie sich diesem Notstand gewachsen zeigt.


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