Ein Loblied auf die EU-Ombudsfrau Emily O’Reilly und auf alle, die Europa pflegen und heilen. Die zwölf goldgelben Sterne Europas sollen wieder glänzen.

Die politische Wochenschau von Heribert Prantl

Europa ist das Beste, was den Deutschen, den Franzosen und den Italienern, den Österreichern und den Dänen, den Polen und Spaniern, den Tschechen und den Ungarn, den Flamen und Wallonen, den Schotten und den Iren, den Basken, den Balten und Bayern und vielen anderen in ihrer langen Geschichte passiert ist. Dieses Europa wurde gebaut aus überwundenen Erbfeindschaften. Es ist die späte Verwirklichung so vieler Friedensschlüsse, die den Frieden dann doch nicht gebracht haben. Die Europäischen Verträge sind die Ehe- und Erbverträge ehemaliger Feinde. Dieses Europa ist ein welthistorisches Friedensprojekt. Es ist mehr, es ist viel mehr als die Summe seiner Fehler. Europa ist ein Wunder, trotz seiner Fehler.

Der Koloss, die Pyramiden und die EU

Die hängenden Gärten der Semiramis; der Koloss von Rhodos; das Grab des Königs Mausolos; der Leuchtturm auf der Insel Pharos; die Pyramiden von Gizeh; der Tempel der Artemis in Ephesos, die Zeusstatue von Olympia: Das waren die Weltwunder des Altertums. Ein Weltwunder der Neuzeit ist die Europäische Union, ein Weltwunder ist die demokratische Versammlung der Europäerinnen und Europäer, also das Europäische Parlament. Es ist weltweit die einzige direkt gewählte supranationale Organisation; eine solche Versammlung hat es in der Weltgeschichte noch nicht gegeben. Dieses Europa ist das Weltwunder
der Moderne.

Die Wunder- und Wundenfrau

Die Menschen, die in diesem Wunderland leben, halten das Wunderland für eine Selbstverständlichkeit; aber das vermeintlich Selbstverständliche ist nicht selbstverständlich Das Wunder braucht Achtung, es braucht Beachtung, es braucht Pflege, es braucht Leute, die sich um die Wunden kümmern, die diesem Wunder zugefügt wurden. So eine Wunder- und Wundenfrau ist Emily O’Reilly. Sie ist Irin, sie ist 64 Jahre alt, sie ist Mutter von fünf Kindern; sie ist tough, sie ist unerschrocken, sie ist seit acht Jahren die Europäische Bürgerbeauftragte, also die EU-Ombudsfrau – sie ist die erste Frau in diesem Amt, das vor ihr „Ombudsman“ hieß.

Emily O’Reilly wirbt für mehr Transparenz in Europa, nein, mehr noch: Sie kämpft dafür – dafür zum Beispiel, dass der Gang der Gesetzgebung in der EU endlich transparent und kapierbar wird. Sie kämpft dafür, dass „das legitime Recht der Bürger auf Einflussnahme“ realisiert wird. Demokratie ist eine Gemeinschaft, die ihre Zukunft miteinander gestaltet. Emily O’Reilly will diesem Satz, sie will den Bürgerinnen und Bürgern zu ihrem Recht verhelfen: gemeinsame Zukunftsgestaltung. Deshalb ist sie die EU-Bürgerbeauftragte, deshalb ist sie Ombudsfrau, deshalb und dafür wird sie am kommenden Dienstag mit dem Europa-Preis der Europa-Universität Flensburg ausgezeichnet. Sie ist zu rühmen als eine unerschrockene Frau, die sich traut, es mit einer gewaltigen Bürokratie aufzunehmen – und, wenn es sein muss, mit prominenten Gegnern; es muss sein; auch wenn das EU- Kommissionspräsidenten sind.

Das goldene Zeitalter

„EU“ ist das Kürzel für das goldene Zeitalter der europäischen Historie. Das ist so, trotz aller Fehler und Gebrechen, die diese Union hat. „Goldenes Zeitalter“ – man schreibt das so hin, weil es wahr ist: Man sagt das so, weil es einfach stimmt – aber man erschrickt beim Reden und beim Schreiben und beim Lesen, weil dieser Lobpreis so überhaupt nicht zur allgemeinen Stimmung passt, weil er übertönt wird vom Lamento furioso der Europakritiker, der Europagegner und Europahasser.

Noch ist Polen nicht verloren

Es tut weh zu erleben, wie die Regierungen in Polen und Ungarn, die Regierungen von Mitgliedsstaaten der EU also, die gemeinsamen europäischen Rechtsgrundsätze missachten. Dieses Europa ist eine Rechtsgemeinschaft. Die Geltung des europäischen Rechts in allen Mitgliedsstaaten ist das Fundament der Europäischen Union. Zu den Kernprinzipien dieses Rechts und damit zu den Kernprinzipien Europas gehört das Prinzip der Gewaltenteilung, das unabhängige Gerichte voraussetzt. Das verlangt: Die Gerichte, die Verfassungsgerichte zuvorderst, müssen von der Regierung unabhängig sein. In Polen und Ungarn ist diese Unabhängigkeit von der Regierung beseitigt worden. Das oberste Gericht Polens ist, wie sich jüngst wieder zeigte, ein Diener der Regierung Mateusz Morawiecki; Morawiecki und seine PiS-Partei haben das Gericht entrechtet, zum Büttel der Exekutive gemacht. Das kann und darf die EU nicht dulden. Es geht nicht einfach nur um Rivalitäten – etwa zwischen dem EU- Gerichtshof und dem polnischen Verfassungsgericht. Es geht um die Existenz der EU als Werte- und Rechtsgemeinschaft.

Liebe und Leidenschaft

Es reicht nicht, entsetzt nach Polen und Ungarn zu schauen und Morawiecki und Orbán mit dem Zeigefinger aufzuspießen. Es gilt, Europa so attraktiv zu machen, dass die Wählerinnen und Wähler in Ungarn und Polen (die ja, wie die Geschichte dieser Länder zeigt, den europäischen Geist in sich tragen, die also geborene Europäer sind) den Premiers Morawiecki und Orbán die Schlägel aus der Hand nehmen, mit denen diese Politiker die antieuropäische Pauke hauen.

Mäkeln und maulen? Mutig beschützen!

Wir alle in Europa haben es uns schon zu lange angewöhnt, an Europa nur herumzumäkeln und herumzumaulen. Wir haben es uns angewöhnt über die Bürokratie von Brüssel zu klagen, über die Demokratiedefizite, über den Wirrwarr der Richtlinien, über die unzulängliche Anti- Corona-Politik. Alle Klagen sind berechtigt. Aber: Wir haben verlernt, das Wunder zu sehen – die offenen Grenzen, die gemeinsame Währung, die gemeinsamen Gesetze. Wir haben immer weniger das gesehen, was gut ist, wir haben immer mehr das gesehen, was schlecht läuft. Das muss sich wieder ändern. Europa braucht Leidenschaft, wenn es weiterleben soll. Das ist nicht nur ein Appell an den künftigen deutschen Kanzler, das ist ein Appell an uns alle. Ich hoffe, dass die Liebe zu Europa wieder wach und spürbar wird.

Der römische Dichter Ovid hat einmal gesagt: „Glücklich ist, wer das, was er liebt, auch wagt, mit Mut zu beschützen.“

Gönnen wir uns dieses Glück. Das wünsche ich uns allen.

 


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