Der Koalitionsvertrag ist der Abgesang auf die informationelle Selbstbestimmung. So wenig Datenschutz war noch nie.
Von Heribert Prant
Der Datenschutz hat einen falschen Namen. Er schützt nämlich nicht abstrakte Daten, sondern konkrete Bürgerinnen und Bürger; er ist ein Bürgerschutz. Genauer gesagt: Er sollte ein Bürgerschutz sein, gerade in einer zunehmend digitalisierten Welt. Der Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD nimmt dem Datenschutz diese Schutzqualität.
Der Koalitionsvertrag vom 9. April richtet zwei gefährliche Dinge an: Er forciert die Zwangsdigitalisierung. Das gesamte staatliche und öffentliche Leben, die gesamte Verwaltung, wird künftig auf Digitalität ausgerichtet. Wer bei dieser Zwangsdigitalisierung nicht mitmacht, wird ausgegrenzt. Er wird zum Bürger dritter Klasse degradiert, für den das Wort „Teilhabe“ nicht mehr gilt. Wer aber bei der Zwangsdigitalisierung brav mitmacht, wie das von den Koalitionären innig gewünscht und betrieben wird, der setzt sich unüberschaubaren Überwachungsrisiken aus.
Das empört gerade ausgefuchste Technikkönner, die die Gefahren der Digitalität gut kennen und schon heute vor Tracking-Firmen warnen, die die digitalen Spuren im Netz sammeln, um möglichst viel über jeden Nutzer in Erfahrung zu bringen. Im eher harmlosen Fall dient das der gezielten Werbung; im gefährlichsten Fall machen autokratische Regierungen auf diese Weise missliebige Menschen ausfindig, markieren und verfolgen sie. Der Koalitionsvertrag macht nun den Staat selbst zu einer gigantischen Tracking-Firma, der die von ihm gesammelten Daten auf digitalen Wertstoffhöfen recycelt.
Vom Datenschutzbeauftragten zum Datennutzbeauftragten
Das ist kein Albtraumszenario, sondern ein im Koalitionsvertrag festgehaltenes und betriebenes politisches Projekt. Der Datenschutz soll nämlich laut Koalitionsvertrag einer umfassenden sicherheitsrechtlichen, aber auch einer umfassenden wirtschaftlichen Nutzung möglichst vieler Daten künftig nicht mehr im Wege stehen. Von einem „Datenschatz“ ist da die Rede, der gehoben werden soll.
Um das klarzumachen und Widerstände möglichst schon im Ansatz zu brechen, wird die Institution des/der Datenschutzbeauftragten umbenannt. Schon mit der neuen Bezeichnung werden neue Schwerpunkte gesetzt: Die bisherige „Bundesbeauftragte für Datenschutz und Informationsfreiheit“ wird umbenannt in „Bundesbeauftragte für Datennutzung, Datenschutz und Informationsfreiheit“. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt. Das Böse, der umfassende Zugriff auf möglichst viele Bürgerdaten, ist in den Augen der künftigen Koalition ja das Gute. Der „Datenreichtum“ soll vom Staat und der Wirtschaft üppig genutzt werden können.
Die Gefahren dabei sind, wenn die im Koalitionsvertrag geplanten staatlichen Überwachungsmaßnahmen umgesetzt werden, noch sehr viel größer als bisher. Die künftige Regierung Merz proklamiert nämlich eine sehr lange Überwachungslitanei, bei der ungeheuer viele Daten abgegriffen werden: Da ist zum einen schon wieder eine Vorratsdatenspeicherung vorgesehen, obwohl sie der Europäische Gerichtshof schon einmal und das Bundesverfassungsgericht schon zweimal abgelehnt hat. Vorratsdatenspeicherung heißt: Es wird gespeichert, wer mit wem per Telefon, per Handy oder per E-Mail in Verbindung gestanden hat und wo er sich dabei aufgehalten hat; es wird auch gespeichert, wer was im Internet angeschaut, gelesen, gesucht oder geschrieben hat. Gespeichert wird das alles anlasslos – also, ohne dass sich jemand verdächtig gemacht hat oder dass eine konkrete Gefahrenlage besteht.
Geplant ist aber nicht nur diese Vorratsdatenspeicherung, geplant ist auch vieles andere: Geplant sind Staatstrojaner, die zu Überwachungszwecken in privaten Computern installiert werden, es wird da von „fernforensischer Software“ gesprochen. Geplant ist auch das automatisierte Scannen von Kfz-Kennzeichen, geplant ist mehr Videoüberwachung an öffentlichen Orten, geplant ist ein nachträglicher Abgleich biometrischer Gesichtserkennung mit Bildern im Internet. Der Grundrechte- und Datenschutzverein „Digitalcourage“ in Bielefeld spricht von „Zombies“ der Sicherheitspolitik; er hat angekündigt, diese „zurück in die Gruft“ zu schicken.
Die gefährliche Totalität
Das klingt martialisch. Martialisch ist aber die geplante Überwacherei. Wenn man sich vorstellt, dass eines Tages, von welcher Regierung auch immer, all die mittels neuer Überwachungsmaßnahmen gesammelten Daten zusammengeführt und mit der im Koalitionsvertrag geplanten „digitalen Identität“ jedes Bürgers und dem neuen digitalen „Bürgerkonto“ verbunden und verknüpft werden – dann wird einem schlecht, dann wähnt man sich in einem Horrorfilm. Aber der Horror ist nicht so weit weg. Gewiss: Es ist nicht automatisch derjenige ein großer Rechtsstaatler, der neue Aufklärungs- und Überwachungsmethoden grundsätzlich für Unrecht hält. Wenn aber die Netze der Überwachung immer dichter werden, dann ergibt sich die gefährliche Totalität schon aus der Summe.
Das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung wurde 1983 vom Bundesverfassungsgericht im Volkszählungsurteil geschaffen. Dieses Grundrecht will den Bürger „gegen unbegrenzte Erhebung, Speicherung, Verwendung und Weitergabe seiner Daten“ schützen. Das war weitsichtig, aber offensichtlich vergeblich. Ein großer Teil der Politik hat sich von Anfang an darüber lustig gemacht und den Datenschutz als Täterschutz verunglimpft. Heute wird der Datenschutz nicht mehr nur als Sicherheitsrisiko, sondern auch als Bürokratiemonster oder Wirtschaftsbremse dargestellt – so hat es soeben Thilo Weichert, der frühere Datenschutzbeauftragte von Schleswig-Holstein, bitter beklagt. Der Koalitionsvertrag vom 9. April 2025 ist der Beweis für die Richtigkeit der Klage. Er ist der Anfang vom Ende des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung.
Die Koalitionsverträge der regierungsbildenden Parteien werden immer länger, der Bürgerschutz wird immer kürzer. Der jüngste Koalitionsvertrag trägt das Allerweltsmotto: „Verantwortung für Deutschland“. Aber dahinter verbirgt sich Giftiges und Gefährliches: Einem Grundrecht wird der Garaus gemacht. Das ist ziemlich verantwortungslos.