Ob eine Kanzlerrede gelobt oder kritisiert wird, hängt nicht von der rhetorischen Leistung des Redners ab. Entscheidend ist etwas anderes – so die Lehre der bisherigen bundesrepublikanischen Geschichte.

 

Von Heribert Prant

Der neue Bundeskanzler hatte Glück: Seine erste Rede als Kanzler im Bundestag, seine Regierungserklärung, ist ihm nicht besonders gut geraten. Warum soll das ein Glück, warum soll das ein gutes Omen sein? Weil es bisher in der bundesdeutschen Geschichte so gewesen ist, dass einer Regierungserklärung, die sogleich allgemein als Sternstunde gepriesen wurde, eine nur sehr unzureichende Regierungsleistung folgte. Nein, ich rede nicht von Willy Brandt; dessen heute in den höchsten Tönen gelobte programmatische Rede („mehr Demokratie wagen“) fand damals nur mäßigen Anklang. Das Fanal, von dem heute in den Geschichtsbüchern rühmend die Rede ist, hörte damals noch keiner. Gerühmt und berühmt wurden seine programmatischen Sätze erst später.

Ich rede von Ludwig Erhard, auf den Friedrich Merz in seiner Rede Bezug genommen hat, als er dessen einstiges Versprechen „Wohlstand für alle“ erneuerte. Dieses Versprechen Erhards stammt freilich nicht aus dessen ziemlich erfolgloser Kanzlerzeit, es stammt aus seiner Zeit als Wirtschaftsminister; es ist dies der Titel seines Buchs, das er 1957 als Wirtschaftsminister der Regierung Adenauer publizierte und dessen Inhalt und Gehalt vielen bis heute als Anleitung zur Verwandlung von Wasser in Wein gilt. Die ruhmreichen Kommentare zu seiner Regierungserklärung als Nachfolger Adenauers waren davon geprägt. Als er 1963 seine erste Regierungserklärung vorgetragen hatte – sie dauerte zwei Stunden und war die längste, die es je gegeben hat –, überschlug sich die Öffentlichkeit vor Lob und Anerkennung.

Erhard sprach damals, 1963, von der „Politik der Mitte“, er appellierte an die Energie des deutschen Volkes, an den produktiven Elan, an den Leistungswillen, der Deutschland gerettet habe und der für die Zukunft wach bleiben müsse. All das fand sich jetzt, 62 Jahre später, in der Rede von Friedrich Merz wieder.

Von einem „neuen Ton“ schrieb damals, 1963, die Stuttgarter Zeitung über Erhards Rede und kam zu dem Ergebnis, dass der Nachfolger Adenauers nach dieser Regierungserklärung „uneingeschränktes Vertrauen“ verdiene. Die Frankfurter Rundschau lobte: „Die Worte waren gut.“ Andere Zeitungen priesen die „Offenherzigkeit und Klarheit“ und kündigten an, dass sich „noch vorhandene Zweifel an Erhards Führungsqualitäten schnell zerstreuen“ werden.

Nach einer Wirtschaftskrise endete Erhards Kanzlerschaft abrupt

Und die Süddeutsche Zeitung kommentierte, dass die Regierungserklärung Ludwig Erhards „den Eindruck erweckt, eher für die nächsten vierzehn Jahre einer neuen Ära, als die restlichen zwei Jahre einer wenig rühmenswerten Legislaturperiode bestimmt zu sein“. Es waren dies die restlichen Jahre der Legislatur, die noch mit Adenauer als Kanzler begonnen hatte; nach der für die Union noch erfolgreichen Bundestagswahl von 1965 endete indes die Kanzlerschaft Erhard abrupt.

Ausschlaggebend dafür war eine schwere wirtschaftliche Rezession, die erste Wirtschaftskrise der Bundesrepublik, verbunden mit steigender Arbeitslosigkeit und einer Haushaltskrise. Diese wirtschaftlichen Probleme hatten zu Spannungen innerhalb der Regierungskoalition aus CDU/CSU und FDP, zum Austritt der FDP aus der Regierung und zum Bruch der Koalition geführt – schon ein Jahr nach der Regierungsbildung.

Die von der SZ seinerzeit angekündigten 14 Kanzlerjahre Erhards waren also ziemlich kurz, der Erfolg Erhards als Vater des deutschen Wirtschaftswunders wiederholte sich nicht, trotz seiner sehr gefeierten Regierungserklärung; seine Kanzlerschaft war glücklos, der Regierungschef regierte nicht, seine Zeit ging sang- und klanglos zu Ende.

Es folgte Kurt Georg Kiesinger, genannt „Silberzunge“, als Kanzler einer großen Koalition mit der SPD – und es gab neue Elogen auf seine Regierungserklärung: „Sie verschweigt und beschönigt nichts, ist zielstrebig und zukunftsbetont, mutig und ehrlich, aus einem Guss“, so Jens Feddersen, der jahrzehntelange Chefredakteur der NRZ, der Neuen Ruhr Zeitung. Der Lohn dafür war nicht üppig: Drei Jahre später endete die Kanzlerschaft von Kiesinger. Seine damals so gerühmte Regierungserklärung wird nirgendwo mehr erwähnt.

Die Probleme sind haltbarer als die Kanzler

Regierungserklärungen, so die Lehre der bisherigen bundesrepublikanischen Geschichte, können also so gut oder schlecht sein, wie sie wollen – sie teilen in der Nachbetrachtung das Schicksal und die Bewertung der Amtszeit dessen, der sie vorgetragen hat. Und eines ist noch eindrucksvoller als selbst eine eindrucksvolle Regierungserklärung: wie die innen- und wirtschaftspolitischen Themen und die Rezepte ihrer Bewältigung wiederkehren: Wachstum, Beschäftigung, Stabilität. Es gilt also: Kanzler (einmal auch eine Kanzlerin) kommen, reden und gehen. Ihre Probleme sind haltbarer als sie.

 


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