Die Unruhe, die einen packt, wenn die AfD Wahlerfolge feiert. Gedanken zum 80. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs und zu einem Verbotsverfahren gegen die AfD.
Von Heribert Prant
Wie geht Erinnerung nach 80 Jahren? Vor 80 Jahren ging der Zweite Weltkrieg in Europa zu Ende; in Asien dauerte er noch Monate länger. Wie geht das Erinnern daran? Was bedeutet es, was erfordert es, wie sieht es aus? „Erinnern“, so hat das Bundespräsident Richard von Weizsäcker vor 40 Jahren in seiner berühmten Rede zum 40. Jahrestag des Kriegsendes gesagt, „heißt, eines Geschehens so ehrlich und rein zu gedenken, dass es zu einem Teil des eigenen Innern wird.“ Ehrlich und rein – wie geht das im Jahr 2025? Die Generation, die diesen Krieg noch erlebt hat, ist bald tot. Und ihre Erinnerung an den Krieg, seine Ursachen und seine Gräuel lässt sich nicht weiterreichen wie ein Staffelholz.
Vor 40 Jahren gehörte es zu dieser Ehrlichkeit, vom 8. Mai als dem „Tag der Befreiung“ zu reden: „Der 8. Mai … hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft“, so sagte Weizsäcker 1985. „Niemand wird um dieser Befreiung willen vergessen, welche schweren Leiden für viele Menschen mit dem 8. Mai erst begannen und danach folgten. Aber wir dürfen nicht im Ende des Krieges die Ursache für Flucht, Vertreibung und Unfreiheit sehen. Sie liegt vielmehr in seinem Anfang und im Beginn jener Gewaltherrschaft, die zum Krieg führte. Wir dürfen den 8. Mai 1945 nicht vom 30. Januar 1933 trennen.“ Der 30. Januar 1933 war der Tag der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten.
Als wäre nichts gewesen
Die Deutschen haben lange über die Bezeichnung und Bewertung der bedingungslosen Kapitulation des Deutschen Reiches gestritten. Sie haben gelernt, dass die Niederwerfung Hitlerdeutschlands wirklich ein Tag der Befreiung von Unrecht und Tyrannei war. Wie nachhaltig war dieses Lernen? Frank-Walter Steinmeier, der heutige Bundespräsident, hat Zweifel. Vor fünf Jahren, zum 75. Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz, hielt er in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem eine leise, eine berührende und schonungslose Rede: „Ich wünschte, sagen zu können: Wir Deutschen haben für immer aus der Geschichte gelernt.“ Doch das könne er nicht, wenn und weil sich Hass und Hetze in Deutschland ausbreiten. „Wir Deutsche erinnern uns“, stellte er fest. „Aber manchmal scheint es mir, als verstünden wir die Vergangenheit besser als die Gegenwart.“ Er klagte darüber, dass sich der Antisemitismus und der Rassismus wieder aufblähen, so als wäre nichts gewesen.
Deutschland – ein halbtrockener Alkoholiker?
Kein Gedenken ist felsenfest. Es gibt heute den Ehrenvorsitzenden einer Partei mit großen Wahlerfolgen, der die Bestialität als „Vogelschiss“ in der deutschen Geschichte bezeichnet. In dieser Partei wird nicht der Holocaust, sondern das Denkmal dafür als „Schande“ bezeichnet. Zum ersten Mal seit Gründung der Bundesrepublik auf dem Boden des Trümmerfeldes, das die Nazis hinterlassen haben, gibt es in fast allen deutschen Parlamenten eine stimmenstarke Partei, in der auch die Hitlerei eine Heimstatt hat. Es ist dies eine Partei, in der mit alten braunen Gemeinheiten kokettiert wird; gewiss nicht von allen, aber von vielen dort.
Die AfD ist zwölf Jahre alt – und das völkische Getöse findet dort immer mehr Echo. Auf Versammlungen dieser Partei wird vor Begeisterung gejohlt, wenn Nazi-Verbrechen verharmlost, Juden verhöhnt, Muslime verachtet, wenn Gemeinheiten über Flüchtlinge gesagt werden. Die AfD hat das Land ungut verändert. Sie hat nicht nur sichtbar und sagbar gemacht, was auch vorher schon da war; aber noch nie ist der alte neue Ungeist so selbstbewusst, überheblich und arrogant aufgetreten. Deutschland, 80 Jahre nach der Befreiung vom Nationalsozialismus, befindet sich in der Situation eines ehemaligen Alkoholikers. Wenn der wieder zur Flasche greift, wird es gefährlich. Das umfangreiche Gutachten des Bundesamts für Verfassungsschutz hat das soeben analysiert und bestätigt: Die AfD ist „gesichert rechtsextremistisch“.
Wenn es in der CDU/CSU Überlegungen gäbe, ob und wann und wie man von der AfD profitieren oder mit ihr kooperieren könnte – dann wäre, dann ist das ein Anlauf zur Befreiung von der Befreiung. Friedrich Merz schließt zwar eine Zusammenarbeit mit der AfD immer wieder kategorisch aus, hat es aber Ende Januar im Bundestag billigend in Kauf genommen, dass die AfD mit ihren Stimmen einem migrationspolitischen Antrag der CDU/CSU zu einer Mehrheit verhalf. „Kategorisch“ ist so ein Verhalten nicht. Ich möchte es nicht ausschließen, dass in der CDU klammheimlich über eine Koalition mit der AfD nachgedacht wird. Solchen Gerüchten könnte die Union ein für alle Mal entgegentreten, wenn sie einen Verbotsantrag gegen die AfD durchsetzen würde.
Verbotsanträge als Befreiung
Erinnerung ist die Unruhe, die einen Demokraten packt, wenn er die AfD als zweitstärkste Fraktion im neuen Bundestag sitzen sieht. Erinnerung ist das Nachdenken darüber, dass Befreiung ein Prozess ist, der nie abgeschlossen ist, der immer wieder von Neuem beginnen muss. Den 8. Mai zu feiern, heißt zu überlegen, was geschehen muss, damit „es“ nicht wieder geschehen kann. Das ist Erinnerung. Es gilt, das Grundgesetz ernst zu nehmen und die Instrumente der Befreiung zu nutzen, die dort vorgesehen sind: Es handelt sich um den Artikel 18 und den Artikel 21 Absatz 2.
Artikel 18 regelt die Verwirkung bestimmter Grundrechte, wenn diese zum Kampf gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung missbraucht werden. Mit diesem Artikel kann einem ausgewiesenen Rechtsextremisten wie dem thüringischen AfD-Fraktionschef Björn Höcke die Wählbarkeit entzogen werden. Höcke hat die Erinnerungskultur als „mies und lächerlich“ bezeichnet. Er wirbt für ein radikales „Remigrationsprojekt“, bei dem sich „menschliche Härten und unschöne Szenen nicht immer vermeiden lassen werden“. Es wäre ein Akt der Befreiung, wenn eine Landesregierung, die Bundesregierung oder der Bundestag gegen Höcke & Co. einen Antrag nach Artikel 18 Grundgesetz stellen würde. Das ist der kleine, der personifizierte Verbotsantrag.
Und es wäre ein Akt der Befreiung, einen großen Verbotsantrag, den nach Artikel 21 Absatz 2, gegen die AfD insgesamt zu stellen: „Parteien, die nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgehen, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden, sind verfassungswidrig. Über die Frage der Verfassungswidrigkeit entscheidet das Bundesverfassungsgericht.“ So steht es im Grundgesetz, so steht es also im politischen Testament, das die Überlebenden des Zweiten Weltkriegs und des Nazi-Terrors geschrieben haben. Man sollte dieses Testament achten, in dem man es beachtet und ernst nimmt. Das gehört zur Erinnerung, das ist praktizierte Erinnerung.