Oskar Lafontaine verabschiedet sich nach fünfzig Jahren aus der Politik. Er war einer der ungewöhnlichsten Politiker der Bundesrepublik: Ein saarländischer Napoleon auf der Achterbahn.
Von Heribert Prantl
Er war der Egomane mit dem Herz für die kleinen Leute. Er war der letzte Charismatiker in der deutschen Politik. Vor ihm gab es Willy Brandt und Franz Josef Strauß. Wen wird es nach ihm geben? Oskar Lafontaine ist von der politischen Bühne abgetreten, jetzt endgültig; er ist 78 Jahre alt. It’s all over now.
Soeben, zwölf Jahre nach seinem Ausstieg aus der Bundespolitik, hat er seine letzte Rede im saarländischen Landtag gehalten, als Fraktionschef der Linken. Es war eine gute Rede, eine Rede über den Krieg, über die Sehnsucht nach Frieden und nach den Wegen dahin. Und sodann ist er aus der linken Partei ausgetreten, aus der Partei also, die er mitgegründet hat – enttäuscht darüber, dass sie nicht mehr den Anspruch habe, „eine linke Alternative zur Politik sozialer Unsicherheit und Ungleichheit“ zu sein, wie er in knappen 44 Zeilen schrieb. Es ist dies ein zartbitteres Ende einer furiosen Karriere. Lafontaine ist der vollendete Unvollendete. Er ist einer der ungewöhnlichsten deutschen Politiker der Nachkriegsgeschichte.
Der genialste von Willy Brandts Enkeln
Gewiss: Lafontaine ist nicht Bundeskanzler geworden, obwohl er wie nur wenige andere das Zeug dazu gehabt hätte. Er war der letzte der politischen Enkel Brandts, der noch aktiv große Politik gemacht hat. Lafontaine war der bei Weitem genialste dieser Enkel, Schröder der bei Weitem brutalste; machiavellistisch waren sie beide. Lafontaine hat als Parteichef seine Mutterpartei, die SPD, aus dem Dreck geholt und regierungsfähig gemacht; er hat zwei neue Parteien gebacken: erst 2005 die WASG, dann 2007 die Linke. Die „Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit“ (WASG) war eine linksgerichtete politische Partei in Deutschland, die 2004 von regierungskritischen SPD-Mitgliedern und Gewerkschaftern aus Protest gegen Kanzler Schröders Agenda 2010 gegründet wurde und die dann 2007 mit der PDS zur Partei „Die Linke“ fusionierte.
Es war eine Karriere wie auf einer Achterbahn – so steil die Auf- und Abstiege, so brutal die Kurven, dass bei einer echten Achterbahn kein TÜV sie genehmigt hätte. Die Journalisten haben ihn schon den „Napoleon von der Saar“ genannt, als er noch junger, genialischer SPD-Oberbürgermeister von Saarbrücken war. Er war saarländischer Ministerpräsident von 1985 bis 1998, Kanzlerkandidat der SPD kurz nach der deutschen Wiedervereinigung. Damals, 1990, hätte ein Attentat fast sein physisches Leben beendet – eine Attentäterin stach dem Gegenkandidaten von Helmut Kohl bei einer Wahlkampfveranstaltung in Köln-Mülheim ein Messer in den Hals; das hat Lafontaine scheu und beklommen gemacht, scheuer, als es dann in der Tagespolitik den Anschein hatte.
Als SPD-Chef seit 1995 machte er Gerhard Schröder zum Bundeskanzler. Er wurde dessen Finanzminister; im Streit mit Schröder und dessen Agenda- und Hartz-IV-Politik, die er scharf als unsozial kritisierte, trat er aus der SPD aus, gründete zusammen mit Gregor Gysi „Die Linke“. Beide zusammen führten die Fraktion. Jahrelang war er nach seinem Rücktritt als SPD-Finanzminister und als SPD-Parteichef der Buhmann der Nation gewesen. „Verräter“ war damals das Synonym für Lafontaine. Wenn es um ihn ging, taten auch ansonsten sachliche Nachrichten auf einmal so, als seien sie Kommentare. Das war nicht sehr demokratisch; aber Lafontaine hat sich dagegen mit demokratischen Mitteln gewehrt: mit dem Erfolg seiner neuen Parteigründungen, mit deren Einzug in die Parlamente.
Der Auskoster
Der saarländische Gourmet Lafontaine ist einer, der das Leben in der Politik ausgekostet hat – die Lust am Reden, am Agitieren, am Polemisieren und Überzeugen, die Lust daran, Machtstrategien zu entwickeln und erfolgreich durchzusetzen. Er ist, er war ein extrovertierter Politiker, der den Wert introvertierten Arbeit kennt: Nachdem er den unglücklichen Rudolf Scharping auf dem SPD-Parteitag in Mannheim als SPD-Chef gestürzt hatte, stürzte er sich in die Innenarbeit der SPD, machte binnen zweier Jahre aus einem lahmen Haufen eine schlagkräftige Truppe. Und als er viel später die Linkspartei aus dem Boden stampfte, war es wieder so: anregen, pflegen, bändigen, mit vielen merkwürdigen Leuten umgehen, sie sich gewogen und zunutze machen.
Auf diese Weise zeigte er es denen, die ihn abgeschrieben und verachtet hatten: den Genossen, den Konsorten und der Journaille. Auf diese Weise schuf er eine Partei links von der SPD. Es war dies nicht nur ein Ergebnis seiner Agitationskraft nach außen, sondern auch seiner Disziplinierungskraft nach innen. „Die Linke“ die heute bei fünf Prozent herumkrebst, stünde wohl besser da, wenn ein Lafontaine noch das Sagen hätte.
Nur wer selbst begeistert
Zu seinen berühmten Sätzen gehört der: „Nur wer selbst begeistert ist, kann andere begeistern.“ Mit dieser Rede gewann er die Herzen der Delegierten 1995 beim Parteitag in Mannheim. Mit dieser Rede stürzte er Rudolf Scharping. Mit dieser Rede wurde er Parteivorsitzender. Er glaubte und glaubt an die soziale Idee, an den notwendigen Ausgleich zwischen Arm und Reich, er hält das zu Recht für die große Zukunftsfrage. Nichts ist so stark wie eine Idee, deren Zeit gekommen ist: Der Satz steht in Victor Hugos „Die Elenden“ aus dem Jahr 1862; das Buch ist ein Schmachtfetzen, volkstümlich eingängig, ein Roman, der eine tiefgreifende Reform der Gesellschaft fordert. Dieses Buch war sein Lieblingsbuch in seiner Jugend – die er als Bub einer katholischen Arbeiterfamilie im bischöflichen Konvikt in Prüm in der Eifel zugebracht hat.
Seine Wahlkampfreden waren so wie das Buch von Victor Hugo. Man wird diese Reden vermissen. Und einiges von ihm wird weiterhin in den Talkshowbeiträgen von Sahra Wagenknecht, seiner vierten Ehefrau, aufblitzen. Mit ihr ist er glücklicher als mit den Parteien, um die und für die er kämpfte.