150 Jahre lang war die Geschichte der deutschen Ausländerpolitik eine Geschichte der Schlechtbehandlung. Mit den geplanten Gesetzen der Regierung Scholz gibt es jetzt endlich die Chance, es besser zu machen.

Von Heribert Prantl

Was soll das Recht leisten? Es ist dafür da, das Leben menschen- und gesellschaftsverträglich zu ordnen. Nirgendwo sonst hat das Recht, über ein Jahrhundert lang, dabei so versagt wie im sogenannten Ausländerrecht. In anderen Rechtsgebieten ist es so, dass sich das Recht fortentwickelt, dass es aufbaut auf dem, was war, dass es sich wandelt, korrigiert, dass es lernt; in anderen Rechtsgebieten ist es so, dass der Gesetzgeber das Recht verbessert und das Parlament legislativ auf die gesellschaftlichen Veränderungen reagiert.

Es gab in den vergangenen hundert Jahren große Fortschritte im Strafrecht und gewaltige Fortschritte im Bürgerlichen Recht, zumal im Ehe- und im Familienrecht. Das Verfassungsrecht wurde das Recht einer modernen, aufgeklärten, europäischen Gesellschaft. Die Grundrechte gewannen Glanz und Ausstrahlung. Im Ausländer-, im Einwanderungs- und Integrationsrecht glänzt nichts.

Die Wirtschaft suchte billige und willige Arbeitskräfte

Seit 150 Jahren gibt es Einwanderung in Deutschland. Ab dem Jahr 1870 kamen die Ruhrpolen teils mit ihren Familien nach Deutschland und arbeiteten meist als Bergleute. Die ostdeutschen Gutsbesitzer begannen damals damit, Arbeitskräfte aus Polen anzuwerben und auf ihren Gütern zu beschäftigen. Der Reichstag in Berlin, Baubeginn 1884, das Reichsgericht in Leipzig, die U-Bahn in der Hauptstadt und das deutsche Eisenbahnnetz sind überwiegend von ausländischen Arbeitern gebaut worden. Schon damals schwankte die öffentliche Diskussion zwischen Arbeitskräftebedarf und Überfremdungsangst.

Die Wirtschaft suchte billige und willige Arbeitskräfte, bei denen man es mit den neuen Bismarckschen Sozialgesetzen und den Unfallverhütungsvorschriften nicht so genau nehmen musste. Und die Gewerkschaften sahen schon damals, über hundert Jahre vor der EU-Osterweiterung, das Lohngefüge von den Ausländern bedroht. Es tobte deshalb im Kaiserreich ein Streit, wie ihn die Bundesrepublik Deutschland in den Gastarbeiterzeiten und in den Flüchtlingsjahren wieder erlebte.

Damals, im Kaiserreich, warnten die „Alldeutschen“ vor einer „Polonisierung“ Deutschlands. Die Tonlage unterschied sich nicht von der Warnung vor der „Islamisierung“, wie sie dann in der Bundesrepublik populär wurde. Mit dem Schlagwort „Deutschland den Deutschen“ wurde im späten Kaiserreich nationalistische Kraftmeierei betrieben. Und die Einwanderer flüchteten vor den Diskriminierungen in die Subkultur des Milieus. All das kommt einem bekannt vor.

Vom Teppich zum Topflappen

Die Crux der deutschen Ausländer-, Einwanderungs- und Integrationspolitik bestand seit jeher darin, dass sie nicht für die ausländischen Inländer gemacht wurde, sondern für die deutschen Wählerinnen und Wähler. Sie waren die Adressaten der sogenannten Ausländerpolitik. Und deshalb war Ausländerpolitik die Geschichte der immer gleichen Schlechtbehandlung.

Erst das rot-grüne Zuwanderungsgesetz von 2005 war ein erster guter Schritt. Es hätte eigentlich ein Teppich sein sollen, auf dem künftig Integration stattfindet. Im Streit der Parteien und wegen der Teppich-Blockade der CDU/CSU wurde daraus nur ein Topflappen. Aber immerhin: Daran konnte und kann man weiterhäkeln. Das tut nun die Regierung Scholz mit verschiedenen Gesetzesvorhaben, die den Aufenthaltsstatus von Migranten in vernünftiger Weise verbessern und die Einbürgerung erleichtern. Es geht um neue Paragrafen, die für einen neuen Geist stehen.

Die deutsche Migrationspolitik braucht den Geist, wie ihn Bert Brecht einst in einem Gedicht geschildert hat. Brecht beschreibt darin das Schicksal eines italienischen Gastwirts vor dem Einbürgerungsrichter in Los Angeles. Brecht wirbt darin für eine Einbürgerungspraxis, die einen potentiellen Neubürger dem Wort entsprechend behandelt – als Bürger, nicht als Gegner.

Nach ernsthafter Vorbereitung, leider behindert durch die Unkenntnis der neuen Sprache, so Brecht, sagt der Italiener auf die Testfrage, was denn das „8. Amendment“ bedeute, zögerlich: „1492“. Die richtige Antwort wäre gewesen: Es handelt sich um den achten Zusatz zur US-Verfassung, der grausame Behandlung verbietet. Da das Gesetz dem Bewerber die Kenntnis der Landessprache vorschreibt, wird er abgewiesen. So auch beim nächsten Versuch, drei Monate später, als er auf eine neue Frage wieder, laut und freundlich, „1492“ erwidert. Als der dritte Versuch genauso verläuft, erkundigt sich der Richter, dem der Mann gefällt, danach, wie der lebe, und erfährt: schwer arbeitend – und legt ihm deshalb eine neue Frage vor: Wann wurde Amerika entdeckt? Aufgrund der richtigen Antwort „1492“ erhält der Mann die US-Staatsbürgerschaft.

Er konnte zwar nur schlecht Englisch und kannte die US-Geschichte kaum, aber er arbeitete bis zum Umfallen und war ein ordentlicher Familienvater. Das Brecht-Gedicht heißt: „Der demokratische Richter“ – und der Mann der Justiz in Los Angeles ist die Verkörperung des guten Geistes einer Einwanderungsgesellschaft. Diesen guten Geist braucht die deutsche Politik.

Die Alten sollen draußen bleiben

Sie braucht ihn in der Einbürgerungspolitik. Sie braucht ihn auch beim sogenannten erweiterten Familiennachzug, wo das Recht oft unglaublich erbarmungslos ist. Diese Erbarmungslosigkeit betrifft vor allem den Nachzug von Müttern, die in Kriegsgebieten überlebt haben, zu ihren hier in der Regel schon in Deutschland eingebürgerten Kindern. Hauptproblem: Die Krankenversicherung.

Die gesetzlichen und privaten Versicherungsunternehmen wehren sich mit Händen und Füßen gegen den 2007 beziehungsweise 2009 eingeführten Kontrahierungszwang, also gegen die ihnen gesetzlich auferlegte Pflicht, Beitrittswillige aufzunehmen. Die Krankenversicherung verlangt mindestens ein Jahr Aufenthaltserlaubnis. Um die Aufenthaltserlaubnis zu erhalten, muss aber Krankenversicherungsschutz nachgewiesen werden. So beißt sich die Katze in den Schwanz.

Der Gesetzgeber hat bei diesem erweiterten Familiennachzug von Müttern keinerlei Vorteile eingeräumt, wenn der in Deutschland schon lebende Angehörige deutscher Staatsangehöriger ist (anders als beim Ehegatten- oder Kindernachzug). Das heißt: Die Alten sollen draußen bleiben, weil sie, so ist das amtliche Denken, nur Kosten verursachen. Es fehlt hier am guten Geist einer Einwanderungs- und Integrationsgesellschaft.

 


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