Der ukrainische Botschafter Melnyk irritiert mit seiner Verehrung für Stepan Bandera. Dahinter steht eine verworrene, verwirrende und unheilvolle deutsch-russisch-ukrainische Geschichte.

Kommentar von Heribert Prantl

Andrij Melnyk ist derzeit als Talkshowgast so berühmt wie ansonsten nur noch Karl Lauterbach. Er ist 46 Jahre alt und seit sieben Jahren Botschafter der Ukraine in Deutschland; und er ist, man muss das bei allem Respekt so sagen, ein diplomatischer Trampel; ihn hat berühmt gemacht, dass er auf die diplomatische Rede keinen Wert legt.

Er ist ein Trampel, weil er es sein will, nicht weil er es nicht besser kann. Er kann, er könnte: Er spricht ein geschliffenes Deutsch, er kleidet sich piekfein, er trägt polierte Schuhe, er ist ein gelernter und wohlfrisierter Jurist, und er weiß sich zu benehmen; aber wenn es um den Krieg in seinem Heimatland geht, wenn es darum geht, von Deutschland Waffen und militärisches Eingreifen zu fordern – dann hält ihn nichts und niemand zurück; dann düpiert und beleidigt er auch den Bundespräsidenten – geschehen, anlässlich einer Einladung zu seinem „Konzert für Freiheit und Frieden“.

Steinmeier ließ Stücke von polnischen, russischen und ukrainischen Komponisten spielen, das Orchester, die Berliner Philharmoniker, waren selbstredend international besetzt, aber beim Konzert, wie Melnyk wütend und in Großbuchstaben kritisiert, traten „NUR RUSSISCHE (!) SOLISTEN“ auf. Es handelte sich um den Pianisten Jewgeni Kissin, der auch die britische und israelische Staatsangehörigkeit hat, und den Bariton Rodion Pogossov – beide leben schon lange nicht mehr in Russland. Aber Melnyk kennt da kein Pardon und verlangt, die Kunst und die Künstler einer Kriegsräson zu unterwerfen. Und er legt immer noch eines drauf. Soeben hat er giftig dem Bundespräsidenten vorgeworfen, ein „Spinnennetz“ an Russland-Kontakten zu unterhalten.

Die Gefahren der Rüpelhaftigkeit

Kritik an Melnyk in der deutschen Öffentlichkeit fällt – angesichts von Putins Angriffskrieg gegen sein Land – sehr verhalten aus: Von der Robustheit seiner Äußerungen ist die Rede, von seiner unverblümten Art, von seiner Unerbittlichkeit. Und es wird ihm attestiert, zum Beispiel in der FAZ, er sei ein Diplomat, „der über seine Gefühle sprechen kann“. Seine Gefühle drängen ihn gegebenenfalls auch, einen Kritiker als „Arschloch“ zu titulieren und einem deutschen Ex-Abgeordneten den Rat zu geben, „lieber Ihre linke Klappe“ zu halten. Man mag dem undiplomatischen Diplomaten angesichts der russischen Invasion in seinem Land nicht mit einer Stilkritik kommen; aber man wünscht sich, dass den Grimm über seine Rüpelhaftigkeit nicht über kurz oder lang vielleicht auch ukrainische Flüchtlinge ausbaden müssen.

Es ist eindrucksvoll, wie die Flüchtlinge aus der Ukraine willkommen geheißen werden. Wenn sie, anders als vor Jahren die Flüchtlinge aus Syrien, dem Irak oder aus Afghanistan, hierzulande von einigen nicht Flüchtlinge, sondern Vertriebene genannt werden, ist das zunächst einmal kein Zeichen für rassistischen Humanismus, sondern ein Zeichen dafür, wie nah die Vergangenheit der Gegenwart rückt: Die ganz Alten in unserem Land erinnern sich an ihre eigenen Kriegsnächte in Bombenkellern, an ihre Flucht aus Pommern und Ostpreußen. Und ihre Angst von damals wirkt weiter in den Ängsten, die ihre Nachkommen haben.

Damals, als die Flüchtlinge aus Syrien und dem Irak über Ungarn nach Deutschland kamen und die erste frühe Willkommensphase vorbei war, da hieß es, bis hinauf zum damaligen Bundespräsidenten Gauck: „Niemand kann verpflichtet werden, mehr zu leisten als er kann.“ Stimmt doch auch, oder? Niemand kann verpflichtet werden, mehr zu tun als er kann! Aber: Man sollte dieses Können nicht unterschätzen, man sollte nicht vorschnell sagen, dass man nicht mehr, dass man nicht noch mehr kann. Vielleicht, hoffentlich, lehrt das die ukrainische Not. Vielleicht, hoffentlich, lehrt sie auch: Humanität kennt keine Grenzen. Diese Humanität sollte sich jedenfalls von einem undiplomatischen Diplomaten nicht irritieren lassen.

2015 hatte Melnyk das Grab Banderas in München besucht

Irritieren muss freilich die Verehrung, die Andrij Melnyk dem ukrainischen Partisanenführer und Nazi-Kollaborateur Stepan Bandera entgegenbringt. Im Jahr 2015 hat der Botschafter dessen Grab auf dem Münchner Waldfriedhof besucht, dort Blumen niedergelegt und das per Tweet öffentlich gemacht. Bandera sei „unser Held“, schrieb er.

Dieser Personenkult ist befremdlich: Bandera ist verurteilter Mörder des polnischen Innenministers Pieracki im Jahr 1934; er wurde 1940 Anführer des radikal antisemitischen Flügels der Organisation Ukrainischer Nationalisten; der übernahm nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Lemberg/Lwiw dort Polizeigewalt und war an Pogromen gegen die jüdische Zivilbevölkerung sowie an der Ermordung sowjetischer Kriegsgefangener beteiligt.

Der von den Banderistas ausgerufene unabhängige ukrainische Staat war aber nicht im Sinn Hitlers; Bandera wurde daher im KZ Sachsenhausen inhaftiert – als „Ehrenhäftling“ mit besseren Haftbedingungen; er konnte dort Besuch empfangen, um seine Nationalistenorganisation aufrechterhalten zu können. Im Osten der Ukraine (und auch in Polen, Russland und Israel) gilt Bandera als Kriegsverbrecher, im Westen der Ukraine wird er als Nationalheld gefeiert. Es gibt viele Straßen und Plätze zu seinen Ehren; 2010 wurde er von der ukrainischen Regierung zum „Helden“ ausgerufen.

Ein Nazi-Kollaborateur als Held? Der Historiker Lutz C. Klevemann hat in seinem lehrreichen Buch „Lemberg. Die vergessene Mitte Europas“ (2015 im Aufbau-Verlag erschienen) eine Auseinandersetzung der Ukraine mit ihrer eigenen Kollaborationsgeschichte, ihrer Faschismusgeschichte und Antisemitismusgeschichte angemahnt. Botschafter Melnyks Verehrung für Bandera zeigt, wie notwendig das ist. Für Putin ist der Bandera-Kult ein Grund, die ukrainische Politik pauschal als faschistisch zu verdammen. Stepan Bandera lebte nach dem Zweiten Weltkrieg in München und wurde dort 1959 vom KGB-Agenten Bogdan Staschinskij ermordet.

Mit diesem Mord wird die ukrainische Geschichte auch ein spektakulärer Teil der deutschen Strafrechtsgeschichte. Der „Staschinskij-Fall“ ist jeder und jedem, der jemals Jura studiert hat, ein Begriff – mir auch.

Der berühmt-berüchtigte Staschinskij-Fall

Ich saß mit meinem Studienfreund Josef in der Vorlesung Strafrecht/Allgemeiner Teil an der juristischen Fakultät der Universität Regensburg, als der eloquent-geniale Professor Hans-Joachim Hirsch anhob, vom „berühmt-berüchtigten Staschinskij-Fall“ zu dozieren. Auf unser sogleich einsetzendes Gelächter hin stürzte der Professor mit der Frage auf uns zu, was es da zu feixen gäbe – und wir erklärten, dass bei ihm „berühmt-berüchtigte“ Fälle offenbar die Regel seien. „Aber dieser Fall ist es wirklich – berühmt und berüchtigt“, wiederholte der Ordinarius. Und er hatte recht.

Staschinskij wurde nämlich vom Bundesgerichthof wegen des Mordes an Bandera und einem weiteren ukrainischen Exilpolitiker nicht zu lebenslänglicher Strafe, sondern nur zu acht Jahren Haft verurteilt – nicht als Mörder, sondern nur als Mordgehilfe, obwohl er eigenhändig mit einer Blausäure-Spritzpistole geschossen und getötet hatte. Als Täter betrachtete das höchste Strafgericht in Karlsruhe nicht den nach der Tat in den Westen übergelaufenen Agenten Staschinskij, sondern seinen Auftraggeber, den KGB.

„Extrem-subjektive Betrachtungsweise“ nennt man das in der Rechtswissenschaft – oder „Animus-Theorie“: Täter ist danach, wer mit Täterwillen (animus auctoris) handelt und die Tat als eigene will. Das sei, so die höchsten Richter, der KGB gewesen, Staschinkij, der Todesschütze, habe nur Teilnehmerwillen (animus socii) gehabt. Dieser seltsamen Ansicht wurde erst später mit der Neufassung des einschlägigen Paragrafen der Boden entzogen. Jetzt heißt es da: „Als Täter wird bestraft, wer die Tat selbst oder durch einen anderen begeht“. Heute würde Staschinskij also ganz gewiss als Mörder verurteilt. Wenn er noch lebt, irgendwo unter fremdem Namen, ist er 90 Jahre alt. Ob er noch lebt, ist nicht bekannt.

Sein Name steht im deutschen Strafrecht für eine verworrene, verwirrende und unheilvolle ukrainisch-russisch-deutsche Geschichte. Die ist noch nicht zu Ende.


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