Guten Tag,

von meinem Großvater, der Notariatsoberinspektor war, habe ich einen „Palandt“ geerbt. Es handelt sich dabei um ein regelmäßig in neuer Auflage erscheinendes juristisches Kommentarwerk, etwa zwei Ziegelsteine groß und auch etwa so schwer. Wahrscheinlich konnte niemand anderer mit diesem „Palandt“ etwas anfangen, zumal da es sich um eine schon damals alte Auflage handelte. Beeindruckt von Gewicht und vom Umfang der Schrift sowie von der kompletten Unverständlichkeit des Inhalts stellte ich mir, ich war damals an die zehn Jahre alt, den „Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch“ als Bücherstütze ins Regal, neben die Bände von Karl May und Prinz Eisenherz.

Zungenbrecher

Im Lauf der Zeit begann ich, die Menschen zu bewundern, die sich mit diesem Buch und mit Sätzen wie diesem ihr Brot verdienen können: „Tritt der Wille, in fremdem Namen zu handeln, nicht erkennbar hervor, so kommt der Mangel des Willens, im eigenen Namen zu handeln, nicht in Betracht.“ Es handelt sich bei diesem Zungenbrecher um den Paragrafen 164 Absatz 2 BGB. Dieser besagt, ins normale Deutsche übersetzt, dass im Zweifel ein Jeder im eigenen Namen handelt. Wenn man aber so einen verschraubten Satz nur oft genug gelesen hat, wird er einem so lieb wie „Fischers Fritze fischt frische Fische“.

Es gibt zwei aktuelle Anlässe, warum ich mich daran erinnere: Zum einen wurde der „Palandt“ soeben von seinem Verlag, dem Verlag C.H. Beck in München, umbenannt. Er trug nämlich immer noch den Namen eines NS-Juristen, der von 1934 bis 1943 Präsident des Reichsjustizprüfungsamts gewesen war. Dieser Otto Palandt schrieb 1935 Sätze wie diesen: Junge Juristen müssten lernen, „Volksschädlinge zu bekämpfen“ und die „Verbindung von Blut und Boden, von Rasse und Volkstum“ zu begreifen. Der „Palandt“ heißt künftig, ab der 81. Auflage von 2022, „Grüneberg“, benannt nach Christian Grüneberg, Richter am Bundesgerichtshof; er ist der Koordinator der vielen Autorinnen und Autoren, die derzeit die zweieinhalbtausend Paragrafen des Bürgerlichen Gesetzbuchs auf 3300 Seiten erläutern.

Erstrangige geistige Kraft

Dieses Bürgerliche Gesetzbuch hat, und das ist der zweite und eigentliche Anlass für diesen Newsletter, ein großes Jubiläum: Im August 1896 stimmte der Reichstag dem endgültigen Entwurf zu. Am 18. August 1896, also am kommenden Mittwoch vor 125 Jahren, unterschrieb Kaiser Wilhelm II. das BGB mit seinen fünf Teilen – es war verkündet: Allgemeiner Teil, Schuldrecht, Sachenrecht, Ehe- und Familienrecht, Erbrecht. 22 Jahre lang war intensiv daran gearbeitet worden. Es ist eines der am gründlichsten vorbereiteten Gesetzbücher der Rechtsgeschichte, ein kompliziertes, aber geniales gesetzestechnisches Meisterwerk auf der Basis des römischen Rechts; es beendete eine heute unvorstellbare Rechtszersplitterung in Deutschland – in München galt ein anderes Recht als in Köln, in Köln ein anderes als in Hamburg, in Hamburg ein anderes als in Dresden. Die Schöpfer des BGB standen vor einer ähnlichen Aufgabe wie sie sich heute für die Europäische Union stellt: unterschiedlichste Rechte zusammenzufassen, zu koordinieren und zu systematisieren.

Frederic William Maitland, der berühmte englische Rechtshistoriker, schrieb damals über das BGB: Niemals sei „so viel an erstrangiger geistiger Kraft in einen Akt der Gesetzgebung gesteckt worden“. Zu den großen Dingen, die der Deutsche getan habe, gehörte dies: „Er hat den zentralen Bereich seines Rechts kodifiziert; er hat sein juristisches Haus in Ordnung gebracht; er hat den Kehricht in den Abfalleimer gefegt; er hat sich darum bemüht, seine Rechtsordnung in eine rationale, kohärente und moderne Form zu bringen, wie es sein Land und unser Jahrhundert verdienen.“ Dieses BGB ist nicht so schwungvoll wie der napoleonische Code Civil von 1804, in dem der Dichter Stendhal gerne las, um seinen Stil zu schulen. Mit dem BGB kann man aber das Gedächtnis schulen. Es war der Höhe- und Schlusspunkt des usus modernus pandectarum, also der virtuosen Verarbeitung, Pflege und Fortentwicklung des römischen Rechts (der „Pandekten“) in Deutschland. Das BGB fasste die Rechtsentwicklung eines halben Jahrtausends zusammen. Mit diesem Gesetzbuch endet aber auch die große Zeit der Wissenschaft vom römischen Recht in Deutschland.

Mit sieben Siegeln verschlossen

Wäre es nach seinen Kritikern gegangen, das BGB wäre nicht einmal 25 Jahre alt geworden. „Man sinnt uns ein Gesetzbuch an“, so schrieb seinerzeit der Deutschrechtler Otto von Gierke, „mehr römisch als deutsch, dem eigenen Volk ein mit sieben Siegeln verschlossenes Buch“. Die meisten Fachleute sagten ihm denn auch keine lange Lebensdauer voraus: „Ein müder Greis sucht eine kurze Ruhestatt, ehe er ins Grab sinkt.“ Es waren seine angeblichen Schwächen, die das BGB erfolgreich gemacht haben: Abgesehen vom altväterlich-patriarchalischen Familienrecht, das im Lichte und im Geist des Grundgesetzes und der Gleichberechtigung komplett umgeschrieben worden ist, war und ist das BGB ein abstraktes Recht. Es ist insofern politisch neutral, als es für beliebige Konfliktlösungen und Wertungen eingesetzt werden kann. Es ist entstanden in einer Zeit, die auch schon darüber geklagt hat, dass alles immer komplizierter und komplexer wird. Aber mittels seiner Paragrafen waren die Juristen bis heute in der Lage, mit noch größeren Kompliziertheiten und Komplexitäten, mit Kriegs- und Nachkriegswirren, mit Inflation und grundlegenden Veränderungen der Lebenswelt juristisch fertig zu werden.

Die Väter des BGB (Mütter gab es keine), „preschten nicht mit Volldampf in die neuen Zeiten“, erläutert der Regensburger Rechtshistoriker und Familienrechtler Dieter Schwab. Sie hielten alles vom Gesetzbuch fern, was sie in seiner Dimension noch nicht einschätzen konnten: Das Abzahlungsgesetz von 1894 als das erste Verbraucherschutzgesetz blieb ebenso außerhalb des BGB wie das „Gesetz betreffend Verbindlichkeit zum Schadenersatz für die bei dem Betriebe von Eisenbahnen, Bergwerken herbeigeführten Tötungen und Körperverletzungen“ von 1871.

Auch die sozialen Probleme seiner Zeit hat das Bürgerliche Gesetzbuch kaum zur Kenntnis genommen, mehr als ein paar Tropfen an sozialem Öl hat es nicht abbekommen. Die schroffe Formulierung des römischen Eigentumsbegriffs (Paragraf 903 BGB: „Der Eigentümer einer Sache kann mit der Sache nach Belieben verfahren.“) wurde zwar um den Zusatz gemäßigt „soweit nicht Beschränkungen dieses Rechts durch Gesetz oder durch Rechte Dritter begründet sind“. Der Schutz vor dem Missbrauch wirtschaftlicher Freiheit musste aber erst in Sonder- und Nebengesetzen aufgebaut werden.

Gebrauch und Missbrauch

Kurz: Das BGB war und ist ein Werkzeug, das zu vielem gebraucht und zu vielem missbraucht werden konnte. Deshalb hat es in fünf Staatsreformen und Regimen funktionieren können: im Kaiserreich und der Weimarer Republik; im Nazireich, das ein neues Volksgesetzbuch schreiben wollte, aber das nicht mehr schaffte; in der DDR (bis 1972); und in der Bundesrepublik. Deshalb wurde das BGB 1898 in Japan übernommen und 1930 in China, deswegen hat es das griechische Gesetzbuch von 1940 beeinflusst, haben Brasilien und Peru darauf zurückgegriffen. Als freilich nach dem Ende des Ostblocks die neuen Privatrechtsordnungen der osteuropäischen Staaten entwickelt wurden, war die Lust auf das deutsche BGB dort nicht mehr allzu groß; es galt als viel zu kompliziert.

Wenn Professoren wahnsinnig werden

Das ist nicht falsch. Das BGB hat die Eigenheit, dass unter seinen zweitausenddreihundertfünfundachtzig-und-ein-paar-zerquetschten Paragrafen, die das Leben, Lieben und Wirtschaften des Menschen von der Wiege bis zur Bahre und darüber hinaus penibel regeln und ordnen, nicht nur Zungenbrecher sind. Gleich kapitelweise finden sich dort auch solche Paragrafen, die man mit Fug und Recht als Hirnbrecher bezeichnen darf.

Die meisten davon enthält der Teil des Gesetzeswerks, der „Schuldrecht“ heißt, sich mit Störungen in vertraglichen Beziehungen befasst und als juristische Schaltzentrale fungiert; alles Recht hört auf das Kommando dieses hirnbrecherischen Schuldrechts. Im vierten Semester, beim Studium der dortigen Vorschriften über die Nicht- und die Schlechterfüllung von Verträgen, habe ich deshalb den eingangs genannten alten BGB-Kommentar, der mich bis dahin als Maskottchen und Bücherstütze begleitet hatte, an einem heißen Sommerabend voller Zorn und Verzweiflung aus dem Fenster geworfen. Die Straftat des gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr, die in dieser Art der Eigentumsaufgabe zu sehen sein dürfte, ist mittlerweile verjährt, und die Scham über das eigene intellektuelle Unvermögen wurde schon seinerzeit gemildert durch den Trost des Professors, dass es auch schon Lehrstuhlinhaber gegeben habe, die über dem Studium dieser Rechtsmaterien wahnsinnig geworden seien.

Leuchtende Augen

Seit dem 1. Januar 2002 sind alle beim BGB-Studium rasend Gewordenen rehabilitiert. Seit diesem Tag gilt nämlich ein etwas einfacheres und übersichtlicheres Schuldrecht. Es ist unter der Ägide der damaligen SPD-Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin reformiert worden. Vorgaben aus Brüssel, die den elektronischen Geschäftsverkehr betreffen, wurden eingearbeitet. Heute geschieht ähnliches mit dem digitalen Kaufrecht. Däubler-Gmelin nutzte vor zwanzig Jahren die europäische Gelegenheit, das geschriebene Recht auf den neuesten Stand zu bringen. Dinge, die nicht im BGB standen, die aber von den obersten Gerichten in den vergangenen hundert Jahren entwickelt worden waren, wurden eingearbeitet. Der „Wegfall der Geschäftsgrundlage”, die „positive Vertragsverletzung” oder das „Verschulden bei Vertragsverhandlungen” – Rechtsfiguren, bei denen Juristen leuchtende Augen kriegen – wurden im neuen BGB legalisiert. Viele Sondergesetze, die neben dem BGB entstanden, sind seit der Schuldrechtsreform wieder in dieses zentrale Gesetzbuch integriert.

Dieses reformierte BGB, so hat es damals die Bundesjustizministerin versprochen, sei „eine große Etappe auf dem Weg zu einem europäischen Zivilgesetzbuch“. Das war und ist ein schöner und frommer Wunsch, der auf die gemeinsamen römisch-rechtlichen Grundlagen der europäischen Rechtsordnungen vertraut. Das BGB wird noch viele Geburtstage feiern, bis er sich erfüllt.

Ich wünsche Ihnen wunderbare August-Tage. Der nächste Newsletter „Prantls Blick“ erscheint, nach einer kleinen Sommerpause, am 12. September.

Ihr

Heribert Prantl,
Kolumnist und Autor der Süddeutschen Zeitung


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