Mit einer solchen Grundgesetzänderung entsteht ein neuer Gesellschaftsvertrag. Er ist wichtig, weil der Respekt vor den Kindern und der Respekt vor den Alten zusammengehört.

Von Heribert Prant

Am gestrigen Samstag, am 20. September, war der Weltkindertag. Am heutigen Sonntag, am 21. September, ist der Welt-Alzheimertag. Es sind dies zwei Tage, die man zusammen im Blick haben muss; es sind Tage, die miteinander verwandt sind. Denn: Der Respekt vor den Kindern und den Alten gehört zusammen. Er ist das Band, welches das Leben umspannt. Es ist bedauerlich, dass dieses Band bisher im Grundgesetz keine Anknüpfungspunkte hat, an denen man es festmachen kann. Eine Verfassung ist eine Liebeserklärung an ein Land. Wenn die Kinder darin nicht vorkommen, fehlt ihr etwas. Wenn die Alten darin nicht vorkommen, fehlt ihr auch etwas. Wenn beide nicht darin vorkommen, ist das ein Doppelmangel. Deutschland braucht ein Alpha- und ein Omega-Grundrecht.

Seit 1989 gibt es die UN-Kinderrechtskonvention. Sie gilt auch in Deutschland, ist indes im Grundgesetz bisher nicht verankert. Das Grundgesetz schützt zwar mittlerweile ausdrücklich auch die Tiere und die Umwelt, aber die Kinder nicht. Alle Anläufe, daran etwas zu ändern, alle Initiativen, ein Kindergrundrecht ins Grundgesetz zu schreiben, sind bisher gescheitert. Das Bundesverfassungsgericht hat 2008 „ein Recht des Kindes auf Pflege und Erziehung“ etabliert und dieses ungeschriebene Grundrecht für Kinder dem Elterngrundrecht nach Artikel 6 des Grundgesetzes gleichgestellt. Aber der Gesetzgeber hat sich bisher geweigert, das auch so ins Grundgesetz zu schreiben.

Das Grundgesetz einer alternden Gesellschaft

Es wäre gut, wenn das Grundgesetz ausdrücklich die Kraft hätte, die ganz jungen und die ganz alten Menschen zu schützen. Gäbe es das Kindergrundrecht – hätten die Kitas und die Schulen in der Corona-Krise so lange zugesperrt werden dürfen? Und: Gäbe es ein Alten-Grundrecht – hätten die Alten dann in der Corona-Zeit in den Alten- und Pflegeheimen so radikal isoliert werden dürfen, dass sie einsam und allein sterben mussten? Der UN-Menschenrechtsrat verfolgt seit April 2025 ein Mandat zur Ausarbeitung eines internationalen Menschenrechts-Vertrags zum Schutz älterer Menschen. Das Ziel ist eine verbindliche universelle Altenkonvention. Könnte, sollte, müsste ihr die Verfassung in der Bundesrepublik, ein Land mit einer alternden Gesellschaft, nicht vorgreifen?

Früher hatten die Menschen Angst vor dem Sterben, heute haben sie Angst vor dem Altern, Angst vor der Hilflosigkeit, Angst davor, umfassend auf Hilfe angewiesen zu sein. Jeder zweite 85-Jährige in Deutschland lebt allein, ist allein. Die Gesellschaft hat es sich angewöhnt, über das Alter zu stöhnen – gerade so, als ob dieses Altern nur aus Demenz und Leid bestünde. Das längere Leben ist aber auch eine Auferstehung. Es ist Wundersames, es ist Ungeheuerliches geschehen: In nur einem Jahrhundert haben die Menschen zwanzig Jahre an Lebenszeit gewonnen. Die Lebenszeiten haben sich den Jahreszeiten angenähert.

Früher bestand ein Leben aus Frühling, Sommer und Winter, also aus Kindheit, Arbeit und Sterben. Mit den geschenkten Jahren ist nun ein langer Herbst dazugekommen. Das große und lange Altern ist so neu, dass die Menschen es noch gründlich lernen müssen. Zu diesem Lernen gehört auch ein neues Koordinatensystem im Alltag, dazu gehören Wohnungen und Häuser, in denen man das Altern und das Alter gut und erfüllt leben kann. Es geht um die dritte und die vierte Lebenszeit der Menschen. Es geht um den Herbst und den Winter des Lebens. Es geht um Antworten auf drängende Fragen: Wie sieht gutes Altern aus? Wie wollen wir wohnen?

Die geschenkten Jahre können nicht nur freie, sondern auch soziale Zeit sein

Wenn die Menschen das Altern gut lernen, wird das die Gesellschaft grundlegend verändern. Es wird die Gesellschaft menschlicher machen, weil die älteren Menschen Zeit haben – Zeit für die Dinge, für die die Jungen keine Zeit haben. Es wird die Gesellschaft klüger machen, weil die älteren Menschen Erfahrung haben – Erfahrungen, die die Jungen noch nicht haben.

Der lange Herbst wird die Gesellschaft sozialer machen, wenn die geschenkten Jahre nicht nur Freizeit, sondern auch eine soziale Zeit sein werden. Das Altern der Gesellschaft wird also, wenn es ihr gelingt, das Altern zu lernen, ein Glücksfall sein. Die Wohnungswirtschaft und auch die Wohlfahrtsverbände können diesem Glück nachhelfen – durch den Bau von Mehrgenerationenhäusern zum Beispiel, durch Immobilien, in denen persönliche und soziale Mobilität möglich ist.

Dies funktioniert aber nur, wenn die materielle Existenz gesichert ist

Es wird nämlich, wenn es gut geht, einen neuen Gesellschaftsvertrag geben; und das Grundgesetz kann diesem Vertrag nachhelfen: Die Menschen in der dritten Lebenszeit, die die Erziehung ihrer Kinder hinter sich haben, kümmern sich um die Enkelgeneration, also um die ganz Jungen – und um Menschen in der vierten Lebenszeit, also um die ganz Alten. Ohne die jungen Alten würden schon heute viele junge Familien den steigenden Stress gar nicht aushalten; sie würden daran scheitern, ihr Leben mit Beruf und Kindern zu organisieren. Ein Heer von Frauen und Männern im Ruhestand, also im jungen Alter, steht parat, um Leon von der Kita abzuholen und mit Lisa Hausaufgaben zu machen.

Wenn immer mehr Herbstmenschen sich für die ihnen geschenkten Jahre dadurch dankbar zeigen, dass sie sich um die Menschen der anderen Jahreszeiten, um die in der ersten und der vierten Jahreszeit kümmern, ist das der neue Gesellschaftsvertrag. Dieser neue Gesellschaftsvertrag funktioniert aber nur, wenn die materielle Existenz der Menschen im dritten Alter gesichert ist. Wer das Anstehen an der Tafel organisieren, wer Kleinjobs annehmen muss, um einigermaßen zurechtzukommen, der hat nicht die Zeit und nicht die Muße, sich um den neuen Gesellschaftsvertrag zu kümmern.

Die ganz Alten und die ganz Jungen brauchen Pflege und Hilfe. Sie brauchen jemanden, der ihnen zuhört; der mit ihnen am Tisch sitzt, der mit ihnen isst; der sie in den Arm nimmt; der einfach Zeit hat. Es ist gut, wenn die Menschen im Herbst des Lebens dies können. Wenn dieser neue Gesellschaftsvertrag funktioniert, wird das die Angst vor dem Alter und der Zukunft schwinden lassen. Hinzu kommt eine aufregende empirische Erkenntnis. Bürgerinnen und Bürger, die anderen helfen können, leben länger.

Die nicht ganz Alten werden also, wenn es gut geht, die Wahlverwandten der ganz Alten und der ganz Jungen werden. Es werden im ganzen Land Nachbarschaftsvereine und Wohnpflegegruppen gegründet, in denen sich eine neue Kultur der Hilfe bewährt. Und die Menschen im dritten Lebensalter werden glücklicher sein als heute, weil sie spüren, dass sie gebraucht werden. Wenn das Grundgesetz all dem durch ein Kinder- und durch ein Altengrundrecht nachhelfen kann, verdient es sich das Wort Grundgesetz von Neuem.

 


 

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