Die AfD bestimmt die Anti-Flüchtlings-Agenda. Die anderen Parteien beten ihre Forderungen nach. Das ist hässliche und menschenfeindliche Politik.

Von Heribert Prantl

Migration: Sammeln wir die aktuellen Forderungen, fassen wir die sich überschlagenden Postulate zusammen. Die Zusammenfassung geht so: Aus dem Asylrecht müsse ein „abstraktes Grundrecht“, eine „Art Gnadenrecht“ gemacht werden.

Ein Flüchtling solle sich darauf „nicht mehr ohne Rücksicht auf andere Interessen berufen“ können. Deshalb müsse man, wenn es um Flüchtlinge geht, das Rechtsschutzprinzip des Grundgesetzes, den Artikel 19 Absatz 4, außer Kraft setzen. Für Flüchtlinge und Migranten könne es nämlich einen ordentlichen Rechtsweg, wie er dort beschrieben ist, nicht mehr geben. Angesichts der hohen Zahlen sei eine Prüfung des Einzelfalls nicht mehr möglich; denn das Boot sei voll. Die deutsche Bevölkerung müsse vor einer „totalen Überforderung“ durch Flüchtlinge geschützt werden. Es sollen „Rückübernahme-Abkommen bis zu den Herkunftsländern“ ausgehandelt werden.

Also: Deutschland schiebt seine Flüchtlinge in ein Nachbarland ab, dieses schiebt sie weiter ins nächste Nachbarland – und so weiter und so fort, bis die Flüchtlinge dort ankommen, wo sie hergekommen sind. Das Problem müsse man schon an der Grenze klären, stoppen und abweisen. Das alles sei dann zugleich ein trefflicher Beitrag dazu, den Rechtsextremisten das Wasser abzugraben.

Vom Grundrecht zum Unrecht

So oder so ähnlich lauten die Forderungen 2024. Es ist die im Wording heute etwas abgewandelte Wiederholung von Forderungen, die fünfunddreißig Jahre alt sind und die seinerzeit von Wahlkampf zu Wahlkampf immer schärfer und immer lauter wurden. Die Zitate aus dem ersten Absatz stammen aus einem Interview, das die Süddeutsche Zeitung im August 1991 mit dem damaligen bayerischen CSU-Innenminister Edmund Stoiber geführt hat – und die schließlich 1993 in der Änderung des Grundrechts auf Asyl mündeten. Aus dem großen Grundrecht nach Artikel 16 Absatz 2 wurde ein kleines Grundrechtlein nach Artikel 16 a.

Damals hatte die AfD noch einen anderen Namen, sie hieß „Die Republikaner“; die waren nicht so erfolgreich wie die AfD heute, hetzten aber mit der Musik aus dem Film „Spiel mir das Lied vom Tod“ gegen Ausländer und gewannen daraufhin 1989 bei den Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus immerhin 7,5 Prozent der Stimmen. Das ist 35 Jahre her. 1990, im ersten gesamtdeutschen Wahlkampf, wurde das Thema Asyl ein Hauptthema. Es gab daraufhin Anschläge ohne Ende auf Flüchtlingsheime und Ausländerwohnungen, ohne dass die Anti-Asyl-Kampagnen eingestellt wurden. Im Gegenteil: Sie wurden intensiviert.

Die mörderischen Anschläge von damals sind heute Teil des Gedenktagekalenders. Aber die Politik, die damals zu diesen Anschlägen führte, ist heute wieder en vogue. Sie wird noch schärfer betrieben als damals. Damals, 1993 ff, sanken die Asylbewerberzahlen erst einmal stark; später stiegen sie wieder. Was damals mit der Grundgesetzänderung erreicht wurde, soll heute ohne Grundgesetzänderung durchgesetzt werden: ein faktisches Ende der rechtlich regulierten Aufnahme von Flüchtlingen. Das ist der Sinn der scharfen Debatten im Sommer und Spätsommer 2024. Die bei Wahlen sehr erfolgreiche Rechtsaußenpartei AfD bestimmt die Agenda; die demokratischen Parteien beten deren Forderungen nach.

Der Flüchtlingsschutz hat keinen parteipolitischen Hüter mehr

Es gibt einen großen Unterschied zu den Debatten der Neunzigerjahre: Damals wurde in den demokratischen Parteien heftig diskutiert, damals gab es Widerstand; sogar in der CDU: Heiner Geißler, damals Vize-Fraktionschef der CDU/CSU, wurde deswegen als Verräter beschimpft. Vor allem in der SPD gab es tiefschürfende Debatten, es gab sogar einen Sonderparteitag im November 1992. Dieser Parteitag akzeptierte dann die Änderung des Asylgrundrechts als Preis für die neue Beweglichkeit der Partei, als Preis für eine politische Offensive. Letztlich gab sich die SPD damals in der Asylfrage geschlagen, um von der Union nicht mehr geschlagen zu werden. So ähnlich ist es heute wieder, aber man diskutiert erst gar nicht mehr.

Der Flüchtlingsschutz hat praktisch keinen parteipolitischen Hüter mehr. Die AfD gibt den Ton vor, dem die CDU/CSU, die SPD und die FDP folgen. Die Grünen, die vor dreißig Jahren die Anführer des Widerstands gegen die Grundgesetzänderung waren, sind stumm geworden. Und beim BSW vertritt Sahra Wagenknecht die Position, die seinerzeit ihr jetziger Ehegatte Oskar Lafontaine vertrat: Der war damals, noch in der SPD, der erste prominente Sozialdemokrat, der eine Grundgesetzänderung propagierte und den Verzicht auf das einklagbare, individuelle Grundrecht auf Asyl. Er warf Edmund Stoiber Kusshände zu und sagte dann am nächsten Tag, er habe ja nur gegähnt.

So war das damals. Es gab große Debatten, öffentliche und in den Sitzungen der Parteigremien. Heute gibt es nur noch den Wettbewerb, wer am schnellsten noch schärfere Forderungen stellt. Das geht so weit, dass die große europäische Errungenschaft, die offenen Grenzen, durch massive Grenzkontrollen infrage gestellt werden.

Die Angst des Bodo Ramelow

In der aktuellen Debatte gibt es nur einen, der laut, klar und vernehmlich Kritik übt: Bodo Ramelow, der bürgerlich-linke Noch-Ministerpräsident von Thüringen. Er propagiert einerseits und richtigerweise schnellere Asylverfahren und die Abschiebung von Flüchtlingen, die sich nicht an fundamentale Regeln halten; er kritisiert aber zugleich die manifeste Ausländerfeindlichkeit der aktuellen Migrationsdebatte und fordert mehr Zuwanderung: Allein in Thüringen, so sagt er, fehlten hunderttausend Arbeitskräfte.

Ramelow erklärt wörtlich im Interview mit dem Redaktionsnetzwerk Deutschland: „Deshalb kriege ich langsam Angst vor der gesellschaftlichen Debatte, die von spektakulären und sehr negativen Fällen dominiert wird und nicht von den vielen Fällen, in denen Integration gelingt. Stattdessen wird beim derzeitigen Überbietungswettbewerb der Abschreckungsgrausamkeiten leider auch intensiv die Ausländerfeindlichkeit getriggert. Am Ende kommt nur das Gefühl raus: Die AfD hat es ja gesagt. Jetzt sagen es die anderen auch.“

Ramelow hat recht. Die aktuelle Debatte ist eine völlig undifferenzierte, eine rohe Debatte, eine Debatte ohne Zwischentöne, eine Debatte ohne Herz und Verstand. Obwohl die Flüchtlingszahlen nicht steigen, sondern sinken, wird von einem Notstand geredet. Der Notstand besteht nicht in der Zahl der Flüchtlinge, er besteht in der Art und Weise, wie darüber geredet wird – und wie in der Flüchtlingsarbeit drastisch gespart wird. Bei der Förderung von Integrationskursen wird im Bundeshaushalt 2025 massiv gekürzt. Und beim Bundesförderprogramm für die psychosoziale Betreuung und Beratung für Geflüchtete wird fast die Hälfte der Mittel gestrichen.

Der Flüchtling per se wird als Verbrecher betrachtet

Der Notstand besteht in der unzureichenden Infrastruktur für Flüchtlinge. Und er besteht darin, dass so getan wird, als seien schutzsuchende Menschen in toto ein Sicherheitsproblem. Der Flüchtling per se wird als Verbrecher betrachtet und behandelt. Einzelne Straftaten werden missbraucht, um anlasslose Durchsuchung jedweder Personen und eine flächendeckende biometrische Überwachung einzuführen; wer irgendwelche Spuren im Internet hinterlässt, wird künftig davon ausgehen müssen, dass diese Daten gegen ihn verwendet werden. Eine exzessive Asylpolitik wird zum Menetekel für die allgemeine Politik der inneren Sicherheit.

Deutschland solle sich, auch das hört man in der gegenwärtigen Debatte, aus der Genfer Flüchtlingskonvention verabschieden. Die sei nach dem Zweiten Weltkrieg in einer ganz anderen Welt als heute beschlossen und verabschiedet worden; sie sei nicht mehr zeitgemäß. Humanität ist nicht zeitgemäß? In welcher Welt wollen wir denn dann leben?

Man darf sich nicht einschüchtern lassen von denen, die Gift und Galle spucken; nicht von denen, die nicht die Zivilgesellschaft, sondern die Unzivilgesellschaft repräsentieren. Es gibt hierzulande auch Zigtausende von Menschen, die immer noch und trotz alledem den Flüchtlingen helfen beim Deutschlernen, beim Umgang mit den Behörden, beim Fußfassen in diesem Land. Von ihnen soll sich die Politik beeindrucken lassen. Sie handeln nach der Regel: Handeln wir so, wie wir behandelt werden wollten, wenn wir Flüchtlinge wären.

Ein Dienst an allen Menschen in unserem Land

Ulrike Kilp-Aranmolate, Geschäftsführerin des Diakonischen Werks in Solingen, das dort in der Unterkunft des Messerattentäters tätig ist, hat am Freitag ein Statement im Solinger Tageblatt veröffentlicht: „Wir vermögen nicht zu sagen, was wir als Diakonie mit den viel zu wenigen Ressourcen – schon vor dem 23. August – für unsere Arbeit in den Flüchtlingseinrichtungen, in den Beratungsdiensten und Kitas noch schaffen werden. Wir können aber heute sagen, dass unser Mandat, unser Selbstverständnis sich nicht geändert hat oder ändern wird. Wir werden weiter dazu beitragen, dass Schwache und Ausgegrenzte in dieser Gesellschaft eine Stimme und ein Dach über dem Kopf haben und konkrete, professionelle Unterstützungsangebote erhalten. Wir tragen damit seit langer Zeit dazu bei, dass Menschen in unserem Land nicht verloren gehen und ihnen die Existenzgrundlagen zugänglich sind. Das ist ein Dienst an allen Menschen in unserem Land.“ Es wäre gut, wenn die Politik die Wohlfahrtsverbände bei diesem Dienst nicht allein ließen.

 


Newsletter-Teaser