Nachruf auf einen Grundgesetzartikel: Warum man zum 75. Verfassungsjubiläum an den alten Artikel 23 erinnern muss.

Von Heribert Prantl

Es ist Zeit für einen Nachruf. Nein, nicht für einen Nachruf auf das ganze Grundgesetz. Das Grundgesetz ist lebendig, es lebt hoffentlich noch lange, und seine Grundrechte haben hoffentlich die Kraft, die sie brauchen, um die Bürgerinnen und Bürger durch schwierige Zeiten zu begleiten. Trotzdem ist es Zeit für einen Nachruf auf einen ganz bestimmten Grundgesetzartikel. Zum großen 75. Jubiläum des Grundgesetzes gehört es, eines alten Artikels zu gedenken, der einst wichtig war, den es aber nicht mehr gibt.

Gemeint ist hier nicht das alte große Asylgrundrecht nach Artikel 16, das im Jahr 1993 erheblich geschrumpft wurde und jetzt im Artikel 16 a sehr verkümmert weiterlebt. In diesem Nachruf geht es um den alten Artikel 23; es war dies der Artikel, nach dem die deutsche Wiedervereinigung vollzogen wurde.

Im Winter 1989/90, nach dem Mauerfall vom 9. November 1989, wurde dieser bis dahin kaum beachtete Artikel ausgegraben, beleuchtet, geputzt, gedreht, gewendet und poliert. Aus fast vergessenen Sätzen wurden für einige Monate die wichtigsten Sätze der Republik. Dieser Artikel 23 stammte aus dem Jahr 1949, dem Jahr also, in dem das Grundgesetz in Kraft trat. Er beschrieb im ersten Satz, in welchen Bundesländern das Grundgesetz „zunächst“ gilt. Und dann folgte als Satz zwei der Satz, der dann 1989/90, bei der Suche nach dem Weg zur Deutschen Einheit, eine ungeheure Dynamik entfaltete: „In anderen Teilen Deutschlands ist es nach deren Beitritt in Kraft zu setzen.“

Erst das Saarland, dann die DDR

Dieser Weg über Artikel 23 in die Bundesrepublik war bis dahin ein einziges Mal gegangen worden, das war in den Fünfzigerjahren, als sich das kleine Saarland anschloss. Damals hatte, nach einer Volksabstimmung wohlgemerkt, der Landtag des Saarlandes am 14. Dezember 1956 seine Beitrittserklärung abgegeben: „Der Landtag des Saarlandes erklärt … den Beitritt des Saarlandes gemäß Artikel 23 des Grundgesetzes.“ Wenig später beschloss der Bundestag dann das Gesetz über die Eingliederung des Saarlandes: „Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland gilt vom 1. Januar 1957 an auch im Saarland.“

Es brauchte nicht viel Fantasie, um nun, 1989/90 das Wort „Saarland“ auszutauschen gegen „DDR“. Diese Lösung wurde „Beitritt“ genannt, von ihren Gegnern „Anschluss“. Eine Volksabstimmung hielten die Befürworter dieses Wegs zur Einheit allerdings nicht für nötig.

„So können wir nicht über die Geschichte der letzten 45 Jahre hinweggehen“, meinte einer der Kritiker, es war Herbert Schnoor (SPD), der damalige Innenminister von Nordrhein-Westfalen. Nur die Volksabstimmung könne einer späteren „Legendenbildung“ vorbeugen. Schnoor gehörte zu den Befürwortern des Wegs nach Artikel 146 des Grundgesetzes, in dem es hieß: „Dieses Grundgesetz verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.“

Es hätte also dann eine neue Verfassung auf der Basis des Grundgesetzes geschrieben und darüber abgestimmt werden müssen. So sah es auch der Fahrplan zur Einheit vor, den die Sozialdemokraten der DDR vorgelegt hatten. Das Grundgesetz sollte nicht ganz neu verfasst, sondern mit den Erfahrungen der Menschen in der DDR angereichert, ergänzt und geändert werden – als Basis für die neu gegründete Bundesrepublik. Für eine solche Neubearbeitung sei keine Zeit, sagten die Freunde der Beitrittslösung. Aber: Hatten nicht die Väter des Grundgesetzes bei ihren Beratungen auf Herrenchiemsee im Jahr 1948 (Verfassungsmütter gab es dort nicht) nur binnen 13 Tagen einen gereiften Text ausgearbeitet?

Die Veränderungsbereitschaft im Westen war gleich null

Die Gegner der Beitrittslösung waren zuversichtlich, dass im Elan der friedlichen Revolution so etwas noch einmal gelingen könnte. Sie hatten mit dem Satz „Kein Anschluss unter dieser Nummer“ auch einen schönen Slogan, aber keine Mehrheit, auch nicht im Osten, wo man den schnellen Weg zu Mark und Wohlstand wollte. Und im Westen war die Veränderungsbereitschaft gleich null. Man tat so, als habe der Kollaps der DDR die Bundesrepublik geadelt, ihre Fehler getilgt und ihre Schwächen in Stärken verwandelt. Diese Haltung kennzeichnete den Verlust an Selbstkritik, der seit dem Fall der Mauer eingetreten war.

Eine große bundesrepublikanische Allianz verkündete das Credo der neuen Überheblichkeit: „Etwas Besseres als das Grundgesetz gibt es nicht.“ Nur unwirsch nahm man noch zur Kenntnis, dass im letzten Artikel des Grundgesetzes etwas von einer neuen, gesamtdeutschen Verfassung steht, die das Grundgesetz ablösen soll. Doch darüber wollte man in der alten Bundesrepublik nicht nachdenken. Die CSU warnte ausdrücklich davor, eine neue Verfassung auszuarbeiten. Stattdessen sollte das Grundgesetz weiter gelten, Punkt für Punkt, Komma für Komma.

Kaum jemand redete noch von der wuchernden Macht der Parteien und der Ohnmacht der Bürger. Kaum jemand erinnerte noch daran, dass die im Grundgesetz zementierten „hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums“ bislang jede vernünftige Reform des öffentlichen Dienstes verhindert hatten. Kaum jemand klagte darüber, dass das Wort „Umwelt“ im Grundgesetz immer noch nicht vorkam. Vergessen war, dass die Balance zwischen Bund und Ländern gestört war und das System der Aufgaben-, Ausgaben- und Einnahmenhoheit neu geregelt werden musste. Vor Jahresfrist, zum vierzigsten Jubiläum, hatte man noch eingestanden, dass das Grundgesetz im sozialen Bereich Defizite aufweist. An die Stelle solcher Eingeständnisse trat nun ein breites Grinsen und Schmunzeln über die Verhältnisse in der DDR, wo die Verfassung zwar viel versprochen, aber wenig gehalten hatte.

In diesem Text steckten Träume

Ein „Kuratorium für einen demokratisch verfassten Bund deutscher Länder“, es war dies die erste gesamtdeutsche Bürgerinitiative, arbeitete auf der Basis des Grundgesetzes einen Verfassungsentwurf aus, der neue demokratische Mitwirkungs- und Kontrollrechte der Bürgerinnen und Bürger vorsah, sogenannte plebiszitäre Elemente: Volksinitiative, Volksbegehren, Volksentscheid. Besondere Frauenrechte waren geplant und eine Bundeskanzlerin war auch schon vorgesehen. Der Verfassungsentwurf verwendete konsequent die männlichen und die weiblichen Namensformen. Und so lautete der geplante, aus dem Grundgesetz übernommene, aber sprachlich überarbeitete neue Artikel 65: „Die Bundeskanzlerin oder der Bundeskanzler bestimmen die Richtlinien der Politik.“

Als dieser Vorschlag einer neuen Verfassung in der Frankfurter Paulskirche vorgestellt wurde, kommentierte die FDP-Politikerin Hildegard Hamm-Brücher: „In diesem Text stecken meine Altersträume.“ Aber sie wusste schon, wie es kommen wird: „Die werden sich alle tot stellen im Parlament.“

Die Delegierten aus der DDR hätten bei einer Verfassungsreform etwas an den Verhandlungstisch gebracht, das der Bundesrepublik und dem Grundgesetz immer gefehlt hatte: die demokratische Revolution. Die Bundesrepublik war 1948/49 aus der Retorte entstanden, das Grundgesetz unter der Anleitung der Alliierten. Ein neu verfasstes Deutschland hätte diesen Makel ausgleichen, es hätte die 40-jährige rechtsstaatliche Tradition der BRD verknüpfen können mit der demokratischen Autorität des revolutionären Wandels in der DDR. Es war ein Fehler, auf eine Legitimation von solcher Güte zu verzichten.

Die Gelegenheit zur Verfassungsreform verstrich

Die Deutsche Einheit wäre eine wunderbare Gelegenheit gewesen, das Grundgesetz zu reformieren. Sie verstrich. Genutzt wurde nicht einmal die kleine Chance, die der Einigungsvertrag offenließ. Dort findet sich in Artikel 5 der Auftrag, sich „mit den im Zusammenhang mit der Deutschen Einheit aufgeworfenen Fragen zur Änderung oder Ergänzung des Grundgesetzes zu befassen“.

Von diesem Auftrag blieb fast nichts übrig. Gewiss: Ein „Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen“ wurde 1992/93 in der gemeinsamen Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat festgeschrieben, die Förderung der Gleichberechtigung neu verankert. Und weiter? Nichts weiter. Keine Bürgerbeteiligung, keine Volksbegehren, keine Volksentscheide, keine Plebiszite. Das Grundgesetz blieb mehr oder minder so, wie es war: Die Verfassungskommission von 1992/93 war, weil die CDU/CSU das nicht wollte, kein Marktplatz für ostdeutsche Erfahrungen, kein Forum für gesellschaftliche Selbstvergewisserung. An die 300 000 Eingaben, die plebiszitäre Elemente forderten, blieben ohne Echo.

Wo waren die Aktivposten der Verfassungskommission? Stolz wurde seinerzeit auf den neuen Europa-Artikel 23 Grundgesetz hingewiesen, der an die Stelle des alten Beitrittsartikels trat. Hans-Jochen Vogel (SPD), der Obmann der SPD in der Verfassungskommission, pries diesen Artikel, der „für den Fortgang der europäischen Einigung einen festen Rahmen setzt“.

Dieser lange und von vorn bis hinten exzessiv komplizierte Artikel räumt den Bundesländern in EU-Angelegenheiten umfassende Rechte ein. Die Länder hatten für ihre Zustimmung zum Maastrichter EU-Vertrag den Bund zur Zahlung eines beinahe sittenwidrigen Preises genötigt: Es wurde eine Mischverwaltung in Auswärtigen Angelegenheiten eingeführt. Die Regeln über die Vertretung der deutschen Interessen in Brüssel sind demzufolge ziemlich kurios.

Dass die Bundesländer versucht haben, den jahrzehntelangen Abbau ihrer Kompetenzen zu stoppen und umzudrehen, ist ihnen nicht vorzuwerfen; das föderale Gefüge in Deutschland stimmte längst nicht mehr. Das Ergebnis aber stimmt bedenklich: Der neue Artikel 23 Grundgesetz ist unpraktikabel. Mit diesem Artikel ist kein Staat zu machen. Das galt und gilt für die Arbeit der Verfassungskommission insgesamt. Die neue Konstitution des Gemeinwesens hätte einer neuen Konstituierung bedurft.

Ansonsten ging alles seinen sorgfältigen bürokratischen Gang: Die DDR-Wirtschaft wurde liquidiert und von der Treuhand exekutiert. Die führenden Schichten des Landes wurden deklassiert. Nicht nur die DDR-Kader waren davon betroffen, sondern auch die Eliten in Wirtschaft und Kultur. Die neuen Bundesländer wurden von den West-Eliten kolonisiert. Es lag, wie Peter Bender schrieb, „wenig Weisheit in der Art, wie die Deutschen vereinigt wurden“.

Es begann im Osten bald nach dem Vollzug der Einheit die posteuphorische Phase der Depression; Deindustrialisierung und Privatisierung führten zu hoher Arbeitslosigkeit. Das ist ein Grund dafür, warum die Zufriedenheit mit der real existierenden Demokratie im Osten viel niedriger ist als im Westen. Die Erinnerung an die Zeit, als die Deutschen das glücklichste Volk der Erde waren, ist blass geworden.

Bei Wahlen in den neuen Bundesländern wählen immer mehr Menschen rechts außen, es ist bald jeder Dritte. Was wäre anders geworden, wenn …? Wenn die Wiedervereinigung auf andere Weise vollzogen worden wäre? Vielleicht hätte sich die allgemeine Unzufriedenheit mit dem politischen Betrieb und Personal nicht so krass entwickelt. Diese Unzufriedenheit reicht heute bis weit in die Mitte der Gesellschaft. In die neue Präambel des Grundgesetzes schrieb der Einigungsvertrag eine Schwindelei. Dort steht nämlich seit 1990, dass nun „die Einheit Deutschlands vollendet“ sei. Vollendet? Das ist übertrieben.

 


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