Er findet keine Schuld an sich: Wie der emeritierte Papst Benedikt sich im Missbrauchsskandal selbst freispricht.

Von Heribert Prantl

Das Buch ist eine bittere Anklage, es schaut in Abgründe, es leuchtet in die Untiefen des Halb- und Unterbewusstseins, es blickt ins finstere Labyrinth von Lüge und Schuld. Joseph Conrad hat im Jahr 1899 den großartig-düsteren Roman über eine Reise in den Kongo geschrieben, der „Herz der Finsternis“ heißt und eine Abrechnung mit dem Kolonialismus und dem Rassismus ist. Der Regisseur Francis Ford Coppola hat das „Herz der Finsternis“ im Jahr 1979 unter dem Titel „Apocalypse Now“ verfilmt, wobei der er die Handlung in die Zeit des Vietnam-Krieges und nach Kambodscha verlegte.

Zweitausend Seiten Finsternis

Apocalypse Now: Beim Lesen im fast zweitausendseitigen sogenannten Missbrauchsgutachten kam mir dieses Wort in den Sinn. Es ist der heimliche Titel des Gutachtens, das von der Erzdiözese München/Freising als Schritt zur Aufklärung bei der Münchner Anwaltskanzlei Westpfahl, Spilker und Wastl in Auftrag gegeben worden war; es ist soeben vorgestellt und publiziert worden. Es handelt von der sexuellen Gewalt im katholischen Erzbistum München/Freising seit dem Jahr 1949, es handelt von einer unfassbar langen Zeit der Verharmlosung und Vertuschung, es handelt davon, wie die Kirche Sexualstraftäter als Priester weiter arbeiten und weiter Straftaten begehen ließ; das Gutachten handelt von einem institutionellen und systemischen Versagen der katholischen Kirche, es handelt vom persönlichen Versagen ihrer Spitzenrepräsentanten; es handelt davon, wie sexuelle Gewalt kleingeredet und als Kollateralschaden des Zwangszölibats betrachtet wurde; das Gutachten handelt von der Verletzung von Aufklärungspflichten, von der Verletzung von Meldepflichten, von der Verletzung von Sanktionspflichten und von der Verletzung der Fürsorgepflicht für die Betroffenen.

Ein Steinchen im Urbi-et-orbi-Puzzle

Das Gutachten handelt von fast 500 Opfern, es handelt von 235 Tätern, denen „sexuell missbräuchliche Verhaltensweisen“ vorgeworfen werden; 173 dieser Täter sind Priester. Das Münchner Gutachten listet Empörendes auf, aber dieses Gutachten ist nur ein Steinchen in einem Urbi-et-orbi-Puzzle der Finsternisse. In der Kirchengeschichte gab es immer wieder Zeiten der Finsternis. Aber kaum je war die ecclesiale Finsternis so groß wie heute. Das Grundvertrauen in Kirche hat sich mit den Missbrauchsskandalen in Grundmisstrauen gegen Kirche verwandelt. Und der Dreckhaufen, der mit den Vergehen und Verbrechen an Kindern und Jugendlichen angehäuft wurde, ist so groß, dass er auch vor den Türen anderer Konfessionen liegt. Die Unwürdigkeit und Gemeinheit der Priester, die sexuelle Gewalttäter geworden sind, entehrt die Kirchen. Und das ist die weitergehende Gemeinheit: Auch so viele völlig untadelige, hochengagierte Seelsorger sind unter Generalverdacht geraten. Ihnen begegnen Misstrauen, Verdrossenheit und Spott.

Das Herz der Finsternis

Die sexuelle Gewalt ist nicht wie ein 11. September über die katholische Kirche gekommen. Sie kam von innen und sie wurde gefördert durch Kleinreden und Vertuschen. Der heutige Papst Franziskus weiß, dass nicht der Teufel der Kirche Schmutz ins Gesicht geworfen hat, wie das noch sein Vorgänger Benedikt behauptet hat. Es waren Kirchenmänner, die den Schmutz geworfen haben. Die Strukturen, in denen dies geschah, beschreibt das Münchner Missbrauchsgutachten sehr anschaulich. Es hat keinen literarischen Anspruch; es hat einen juristischen Grundsound; der ist nüchtern. Das Gutachten ist aber wie ein Blick ins Herz der Finsternis, weil es lehrt, wie geschehen konnte, was geschehen ist.

Benedikts Abwimmelorgie

Am peinlichsten und beschämendsten ist der Blick auf Joseph Ratzinger, den emeritierten Papst Benedikt. Seine Antworten auf die Fragen der Gutachter liegen nämlich auf 82 Seiten dem Gutachten bei. Die Antworten sind eine Abwimmelorgie. Es geht hier vor allem um den bekannten Fall des pädophilen Priesters Peter H., der 1980 nach sexuellen Übergriffen auf Minderjährige aus Essen nach Bayern, ins Bistum München/Freising versetzt wurde, wo er sich weiter an Jungen verging.

Joseph Ratzinger war damals Münchner Erzbischof. Er hat in seiner Stellungnahme bestritten, bei der entscheidenden Ordinariatssitzung im Januar 1980 dabei gewesen zu sein, in der die Übernahme und Einsetzung dieses Priesters beschlossen wurde. Er hat in diesem wie in allen anderen Fällen seine Verantwortung zurückgewiesen und behauptet Unkenntnis. Das liest sich so: „Somit ergibt sich aus der Aktenlage …, dass ich keine Kenntnis hatte.“ Zu einer belastenden Aktennotiz: „… keine Erinnerung, so dass ich davon ausgehe, dass sie mir nicht zur Kenntnis gebracht wurde“. Zum Einsatz des pädophilen Priesters: „Aber selbst wenn ich davon Kenntnis gehabt haben sollte, gab es keinen Grund, einen solchen Einsatz zu hinterfragen.“

Suada des Nichtwissens

Es ist dies eine Suada des Nichtwissens und der offenkundigen schriftlichen Lügen. Der emeritierte Papst hat diese Suada kaum selbst formuliert. Sie trägt die Züge seiner juristischen Berater. Die haben ihm damit einen schlechten, einen furchtbaren Dienst erwiesen. Sie haben formuliert, als müssten sie Benedikt XVI. aus einem Strafprozess heraushauen, sie haben eine blamable, beschämende und fatale Verteidigungsschrift verfasst – wo Gewissenserforschung, Schuldbekenntnis, Zerknirschung, Reue und Umkehr notwendig gewesen wären. „In Demut und Reue bekenne ich meine Sünden“ – mit diesem Satz beginnt die Beichte im Beichtstuhl, ihr folgt die Auferlegung einer angemessenen Buße. Von dieser Zerknirschung liest man in der 82-seitigen Stellungnahme nichts. „Ego te absolvo“ heißt die Losung, die der katholische Priester bei der Beichte spricht: „Ich spreche dich frei von deinen Sünden.“ Die Erklärung, die seine Berater Benedikt geschrieben haben, läuft darauf hinaus, dass er sich selbst freispricht: Ego me absolvo. Es ist dies Verhöhnung des Bußsakraments.

Dunkle Schatten auf dem deutschen Papst

Wer immer das formuliert hat: Das Dokument wirft dunkle Schatten auf den deutschen Papst. Es verdüstert die Erinnerung an den beglückenden Besuch des Papstes in seiner bayerischen Heimat im Spätsommer 2006, der damals in seinen Predigten im vertrauten pastoralen Singsang die naive Frömmigkeit des Dorfpfarrers mit der theologischen Raffinesse des Kirchenlehrers vereinte. Die Weltkirche, so erschien es den stolzen Gläubigen damals, hat ihr Herz in Bayern. Die törichte juristische Erklärung bringt nun auch den großen Theologen Joseph Ratzinger und sein Werk in Verruf.

Der Jahrtausendskandal verlangt eine Jahrtausendreform

Wie wird die Kirche weiterleben? Verbrennt sie an und in diesem Skandal? Es hat ein Prozess der galoppierenden Entweihung der Hierarchie eingesetzt, den die katholische Kirche nur mit Demut beenden und wieder umkehren kann. Wir erleben einen Jahrtausendskandal, auf den mit einer Jahrtausendreform reagiert werden muss. Dazu gehört eine Abkehr vom zölibatären Zwang, den es nun seit tausend Jahren gibt. Das reicht, das hat viel Unheil angerichtet. Der Zwang diskreditiert auch die Priester, die in freier Entscheidung zölibatär leben wollen; sie haben ein Recht auf ein Leben ohne Verdächtigungen. Zur Jahrtausendreform gehört auch der Abschied von den patriarchalen klerikalen Machtstrukturen. Die Vertreibung der Frauen aus aller Macht, die die katholische Kirche seit zweitausend Jahren betreibt – sie muss ein Ende haben. Es reicht. In vielen Heiligengeschichten war eine Katastrophe der Anlass zur Umkehr. Warum sollte es in der Geschichte der katholischen Kirche nicht auch so sein?

 


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