Wenn eine Verteidigungstüchtigkeit Deutschlands angeblich nicht mehr ausreicht und „Kriegstüchtigkeit“ hergestellt werden soll – dann muss eine neue, große Friedensbewegung wachsen.

Von Heribert Prantl

Vor vierzig Jahren, Helmut Kohl war seit einem Jahr Bundeskanzler, stimmte der Bundestag der Stationierung nuklearer US-Mittelstreckenraketen vom Typ Pershing II in der Bundesrepublik zu. Das war im November 1983 und gehörte zum Nato-Doppelbeschluss, den noch der andere Helmut, der SPD-Kanzler Helmut Schmidt, eingefädelt hatte. Die Hoffnung der Friedensbewegung, mit riesigen Kundgebungen, mit Sitzblockaden, mit Menschenketten und Friedenscamps die atomare Nachrüstung zu verhindern, war gescheitert.

Dies waren die größten Demonstrationen gewesen, die es bis dahin in der Bundesrepublik gegeben hatte. Hunderttausende Menschen hatten friedlich „für ein atomwaffenfreies Europa“ demonstriert. Die politische Stimmung war aufgeladen, erregt und empört. Eine kritische Öffentlichkeit hielt die nukleare Nachrüstung für eine furchtbare Bedrohung Europas. Die Kanzler Schmidt und Kohl hielten freilich die Nachrüstung für notwendig – um auf diese Weise Abrüstungsverhandlungen der Supermächte zu erzwingen. Der INF-Abrüstungsvertrag wurde dann 1987 von den Staatschefs Michail Gorbatschow und Ronald Reagan unterzeichnet, 2019 wurde er von den USA unter US-Präsident Donald Trump gekündigt.

Friedensdemonstranten sind keine Feinde

Die Friedensbewegung von heute ist sehr viel kleiner als damals. Zu Friedensdemonstrationen heute kommen nicht, wie damals, Hunderttausende, es kommen allenfalls ein paar Zehntausend Menschen. Am Samstag vor dem Brandenburger Tor kamen nur ein paar Tausend. Das hatte wohl auch den Grund, dass die Kundgebung dort zwei politisch sehr unterschiedliche Probleme zusammenpackte: den Krieg in der Ukraine und den Krieg in Gaza. Das kann nur schiefgehen. Es findet sich dann irgendein Trottel, der den Krieg in Gaza mit dem Holocaust vergleicht – und so das Friedensanliegen diskreditiert.

Den Friedensdemonstranten heute fehlt die Anerkennung, die sie vor vierzig Jahren auch bei ihren politischen Gegnern hatten. Die nukleare Gefahr für Europa ist heute nicht kleiner als damals, in der Zeit des Kalten Krieges. Man darf davon ausgehen, dass die Russen seit dem Überfall auf die Ukraine ihre taktischen Atomwaffen auf Mitteleuropa gerichtet haben; und die USA haben auch heute noch taktische Atomwaffen in Deutschland.

Aber heute gibt es aufseiten der Bundesregierung kaum Stimmen mehr, die wie damals in der Nachrüstungszeit mahnen, die Friedensdemonstranten zu respektieren. Es ist daher angebracht, an den integren Liberalen Wolfgang Mischnick zu erinnern. Er war 23 Jahre lang Fraktionsvorsitzender der FDP im Bundestag, sowohl in der Zeit der sozialliberalen Koalition unter den Kanzlern Brandt und Schmidt als auch in der Koalition aus CDU/CSU und FDP unter Kanzler Kohl. Er kritisierte zwar damals die Kritiker des Nato-Doppelbeschlusses, die verkennen würden, dass zur Sicherung des Friedens nicht nur der Wille zum Frieden, sondern auch der „Wille zur Verteidigungsbereitschaft“ erforderlich sei. Aber dann fuhr Mischnick fort: Dennoch dürfe man solche „Andersdenkende“ nicht wie Feinde behandeln. Der SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich ist heute einer, der so denkt und gegen die Kriegsertüchtigung redet. Aber seine Stimme geht fast unter im breiten Strom der Kriegstüchtigen.

Das Friedensgebot des Grundgesetzes

Es ist ungut, wenn Demonstranten, die vor einer Eskalation des Krieges in der Ukraine warnen, als „Putinversteher“ tituliert werden. Es ist ungut, wenn alle politischen Weichen nur auf militärisches Handeln gestellt werden. Es ist ungut, wenn nur noch vom Krieg, von der militärischen Unterstützung der Ukraine und der Aufrüstung der Bundeswehr die Rede ist, aber die Frage, wann und wie ein Ausweg aus dem Kriegsgeschehen gefunden werden kann als mangelnde Solidarität mit der Ukraine kritisiert oder gar als Randfrage abgetan wird.

Es ist schade, wenn eine Friedensinitiative wie die des Historikers Peter Brandt („Frieden schaffen“) belächelt wird, weil sie feststellt, dass „der Schatten eines Atomkriegs“ über Europa liegt und fordert „alles für einen schnellen Waffenstillstand zu tun, den russischen Angriffskrieg zu stoppen und den Weg zu Verhandlungen zu finden“. Es ist fatal, wenn Wörter wie „Kompromiss“, „Waffenstillstand“ und „Friedensverhandlungen“ als Sympathiekundgebungen für Putin gelten und so ausgesprochen werden als wären sie vergiftet. Sie entsprechen dem Friedensgebot, das in der Präambel des Grundgesetzes steht.

Wenn jemand den Frieden ernst nimmt und den richtigen Weg zum Frieden sucht, ist das ernst zu nehmen, auch wenn man selbst einen anderen Weg für richtig hält. Es wird nach der Friedensdemonstration am Brandenburger Tor davon geredet, dass dort „die üblichen Verdächtigen“ aufgetreten seien. Warum sollen sie „verdächtig“ sein – im Gegensatz zu denen, die einen Mentalitätswechsel hin zur Kriegstüchtigkeit in Deutschland fordern? Wenn Verteidigungstüchtigkeit nicht mehr reicht, sondern Kriegstüchtigkeit hergestellt werden soll – dann braucht es tatsächlich eine neue, große Friedensbewegung.

Das Überleben des europäischen Kontinents sichern

Bis hin zu Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier haben sich Politiker seit Beginn des Ukraine-Kriegs entschuldigt dafür, dass sie sich geirrt hätten in der Einschätzung Putins und seiner Politik. Nicht geirrt hat sich seinerzeit die Friedensbewegung, wenn sie Ende der Siebziger- und Anfang der Achtzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts ein Ende des Kalten Krieges und der nuklearen Aufrüstung für unabdingbar hielt, um das Überleben des europäischen Kontinents zu sichern. Der Militärhistoriker Stig Förster, Emeritus der Universität Bern, hat das ungeheure atomare Gefahrenpotenzial beschrieben – im Kapitel „Kalter Krieg“ seines gewaltigen Werks über die „Deutsche Militärgeschichte“, das 2024 im Münchner Verlag C. H. Beck erscheinen wird. Es zeigt sich darin: Die nukleare Planung der Nato für Europa war ebenso wie die entsprechenden Strategien der Sowjetunion verantwortungslos und irrsinnig.

Spiele mit der Apokalypse

Förster ist gerade dabei, sein mehr als tausendseitiges Werk zu vollenden. Im Kapitel über den Kalten Krieg, das ich einsehen konnte, beschreibt er das Ergebnis seiner Recherchen. Es war so damals: Der große Krieg zwischen den Supermächten sollte auf Europa beschränkt bleiben, „Hauptschlachtfeld wäre dabei Mitteleuropa, also vor allem das geteilte Europa gewesen. Auch hierfür standen Nuklearwaffen zur Verfügung. Es handelte sich um taktische Atomwaffen mit einer Sprengkraft von bis zu 300 Kilotonnen (Nagasaki war mit einer Bombe von ’nur‘ 21 Kilotonnen verwüstet worden)“.

Der Militärhistoriker legt dar: „Seit 1952 sah die Nato-Strategie den Rhein als Hauptverteidigungslinie vor. Notfalls wollte man sogar bis zu den Pyrenäen zurückgehen. Ostwärts des Rheins sollten sowjetische Angreifer mit taktischen Atomwaffen aufgehalten und dezimiert werden.“ Und weiter: „Was das von der Nato vorgesehene Szenario bedeutete, zeigte das Luftwaffenmanöver ‚Carte Blanche‘ im Juni 1955. Im Vorfeld der Hauptverteidigungslinie am Rhein und auf dem Gebiet der DDR sollten 345 taktische Atomwaffen zum Einsatz kommen, was 1,7 Millionen Tote und 3,5 Millionen Verletzte verursachen würde. Eine weitere Übung im Herbst 1960 ging vom Einsatz 240 eigener und 170 Atomwaffen des Feindes im süddeutschen Bereich aus. Noch im Jahr 1976 sah das Szenario ,Zebra‘ den Einsatz von 114 taktischen Atomwaffen im ‚Fulda Gap‘ (Anm.: also im Fuldatal nahe der innerdeutschen Grenze) und 27 Waffen gleichen Typs im hessischen Kinzigtal vor. Im Kriegsfall wäre die Bundesrepublik somit in eine nuklear verseuchte und weitgehend unbewohnbare Wüste verwandelt worden.“

„Spiele mit der nuklearen Apokalypse“ hat Stig Förster den einschlägigen Abschnitt überschrieben. Und er resümiert im Hinblick auf die Friedensbewegung: „Die in jenen Jahren sich ausbreitende Friedensbewegung unter dem Motto ‚Kampf dem Atomtod‘ konnte trotz Massenzulauf wenig ausrichten. In den maßgeblichen politischen und militärischen Kreisen der westlichen Siegermächte wurde auf die Bevölkerung des einstigen Feindes ohnehin wenig Rücksicht genommen, wenn es um die Planungen für den Kriegsfall ging. Es war klar, dass nach dieser Doktrin in der Mitte Europas kein Stein mehr auf dem anderen stehen würde.“

Die Gefahr eines Euroshima

Insgesamt habe, so der Historiker, die Kriegsplanung seitens der Führungsmächte innerhalb der beiden Blöcke verdeutlicht, wie gering die angebliche Souveränität der beiden deutschen Staaten in Wirklichkeit war. Besonders gefährlich sei es von 1983 an geworden, so der Militärhistoriker, mit der Stationierung der Pershing II – denn diese Waffe habe den Kreml direkt bedroht.

Dem entspricht eine Schilderung, die Klaus von Dohnanyi, der ehemalige Erste Bürgermeister Hamburgs, im Mai 2022 in der TV-Sendung „Maischberger“ gegeben hat. Er berichtete von einer Nato-Übung im Jahr 1979, an der er in Vertretung des Kanzlers Helmut Schmidt als „Chef im Bunker“ teilgenommen habe. Beim Übungsszenario hätten dann die USA, „ohne mit uns darüber zu reden, auf deutschem Gebiet taktische Nuklearwaffen abgeworfen“. Er, Dohnanyi, habe dann bei Schmidt heftig darüber geklagt und der habe erklärt: „Ich weiß, das ist Nato-Strategie, wenn ein solcher Angriff geschieht, werden bei uns nukleartaktische Bomben abgeworfen.“

Schmidts Nachrüstungs-Atompoker sah dann so aus: Er wollte Nachrüstung mit Abrüstung verbinden. Die Nachrüstung sollte ein strategisches Gleichgewicht schaffen – um dann abzurüsten: eine sowjetische SS-20-Rakete, die auf die BRD gerichtet, gleichzeitig drei deutsche Städte ausradieren konnte, gegen eine Pershing, die binnen zehn Minuten von Westdeutschland nach Moskau fliegen und dort alles in Schutt und Asche zu legen in der Lage war. Egon Bahr sagte dazu später, es sei der Versuch gewesen, eine Art Erpressungssituation zu schaffen.

Diese Erpressung hatte Erfolg: Damals wurde die Gefahr eines Euroshima mit Glück und Entschlossenheit gebannt. Sie besteht heute wieder. Wer bannt sie heute?


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