Über ein Buch von Lion Feuchtwanger, das heute so aktuell ist wie 1930 und die Frage, warum sein Autor, wenn er noch lebte, auf eine Demonstration auf dem Münchner Odeonsplatz gehen würde.

Von Heribert Prantl

Bis zur Landtagswahl in Bayern ist noch eine Woche Zeit. Das reicht, um ein Buch zu lesen, das man unbedingt vor der Wahl gelesen haben muss. Es ist ein Buch, das sich kritisch mit der bayerischen Mentalität auseinandersetzt; es ist eine Diagnose von Land und Leuten. Es ist ein Buch, das den Aufstieg der „wahrhaft Deutschen“ beschreibt, den Aufstieg einer rechtsradikalen Partei, den die Bayern billigend in Kauf nehmen, weil sie zwar „stark sind im Schaun“, aber „schwach im Urteil, das Gestern lieben, das Morgen hassen und im übrigen bloß in Ruhe gelassen werden wollen“.

Nun wird nicht nur in Bayern, sondern auch in Hessen am kommenden Sonntag gewählt. Allerdings gibt es über das Hessenland und seine Bewohner so ein Buch nicht; aber lesen sollte man das Buch auch dort, weil es überall diejenigen gibt, die „das Gestern lieben“ und „das Morgen hassen“ und sich deshalb an die „wahrhaft Deutschen“ halten – und nicht glauben wollen, wohin das führt. Das nämlich ist in diesem Buch prophetisch beschrieben. Das Buch ist ein Zeitmosaik, zusammengesetzt aus vielen Steinchen und Splittern. Zu den Steinchen und Splittern würde heute auch die bittere Groteske um Hubert Aiwanger gehören, seine gewundenen und gedächtnisschwachen Erklärungen um ein altes, brutal bösartiges rechtsextremistisches Flugblatt, das er einst in seiner niederbayerischen Gymnasialzeit in seiner Schultasche hatte.

Die „wahrhaft Deutschen“ gibt es wieder

Das Buch, von dem ich rede, ist noch viel älter als das Flugblatt; dieses Buch kündigt die furchtbaren Grausamkeiten an, über die sich das Aiwanger-Flugblatt bösartig und höhnisch lustig macht. Es ist ein Buch, das nicht neu, aber trotzdem sehr aktuell ist. Wachsende rechtsradikale, rechtsextreme und antisemitische Tendenzen werden dort konstatiert und bissig geschildert: Es heißt „Erfolg. Drei Jahre Geschichte einer Provinz“ von Lion Feuchtwanger.

Es wurde schon 1930 publiziert, also vor bald hundert Jahren. Aber es ist brennend aktuell, weil es Entwicklungen beschreibt, die sich schon wieder entwickeln. Die Partei der „wahrhaft Deutschen“ und ihre Umtriebe, die Feuchtwanger analysiert, gibt es heute wieder; ihre Umtriebe finden sich in der AfD, aber nicht nur dort. Die Radikalen heute haben andere Namen als vor hundert Jahren. Feuchtwanger hat damals in seinem Buch die Namen verfremdet.

„Drei Jahre Geschichte einer Provinz“, so heißt sein Buch im Untertitel. Die Provinz ist Bayern, und der Held des Romans ist die Hauptstadt München, von der der Autor sagt, sie habe den Wahlspruch: „Bauen, brauen, sauen“. Der Bayerische Staatsanzeigerkritisierte das Buch beim Erscheinen als „perfide Verleumdung des Landes, des Volkes und führender Persönlichkeiten Bayerns“. Was da „perfide Verleumdung“ genannt wurde, mag den Lesern in Hessen oder Hamburg heute zum Amüsement dienen, und den Lesern in Bayern ein Anlass sein, darüber nachzudenken, ob die Beschreibung noch so stimmt und was sich geändert hat.

Leben wie bisher, breit und laut

Hier also die Diagnose und die Charakterstudie Lion Feuchtwangers aus dem Jahr 1930: „Die Bayern knurrten, sie wollten leben wie bisher, breit, laut, in ihrem schönen Land, mit ein bißchen Kultur, einem bißchen Musik, mit Fleisch und Bier und Weibern und oft ein Fest und am Sonntag Rauferei. Sie waren zufrieden, wie es war. Die Zugereisten sollten sie in Ruhe lassen, die Schlawiner, die Saupreußen, die Affen, die geselchten“.

„Weiber“ würde man heute nicht mehr schreiben, Raufereien am Sonntag sind nicht mehr so angesagt wie damals, und die „Zugereisten“ von damals, die „geselchten Affen“, sind in München längst zu Hause. Das München der dreißiger Jahre findet sich dort nur noch zum Teil, sonst eher auf dem Land, in der bayerischen Provinz.

Und wie ist es da? Vor 15 Jahren, kurz vor der damaligen Landtagswahl, bei der die CSU brutal abstürzte, habe ich im Feuilleton der SZ ein Essay geschrieben, das „Vergelt’s Gott“ überschrieben war. Der Untertitel: „Die Bayern brauchen die CSU als Staatspartei nicht mehr“, und dort die These vertreten, dass das Land nicht nur schön und schön geblieben, sondern auch klug und aufgeklärt geworden ist. Es habe sich positiv verändert. Und, bei aller Kritik im Detail, habe ich die CSU dafür gelobt, diese Änderungen vorangetrieben zu haben: „Bayern wurde ein Zuwanderungsland für qualifizierte Arbeitskräfte und ihre Familien; die CSU hat Wirtschaft und Verkehr völlig neu gestaltet, sie hat Bildung aufs Land gebracht; dies alles oft mit grausamen Fehlern, aber immerhin und letztlich doch – Bayern ist heute ein modernes und aufgeklärtes Land.“

Der Heimatstolz und das Zammreißen

Das sei, so schrieb ich, ein Erfolg der CSU: Die Leute seien „so selbstbewusst geworden, dass sie die CSU heute weniger brauchen als früher … die Bayern, bei denen der kraftmeierische Heimatstolz die andere Seite eines latenten Unterlegenheitsgefühls war, sind weltläufiger geworden.“ Dafür habe ich die CSU gelobt: „Sie hat Land und Leute in die Lage versetzt, sich von ihr zu emanzipieren.“

Habe ich übertrieben, als ich das geschrieben habe? Habe ich mich geirrt? Ich frage mich das, weil ich den Zuspruch und den Zulauf sehe, den im Jahr 2023 Politiker haben, die rechts außen positioniert sind. Die Umfragen für sie sind erschreckend hoch. „Zammreißen“ heißt daher das Motto einer Demonstration, die am kommenden Mittwoch, dem 4. Oktober auf dem Münchner Odeonsplatz stattfindet. Es würde, wenn er noch lebte, auch Lion Feuchtwanger dabei sein. Er würde auf die Bühne gehen und vorlesen, von seiner Hauptfigur Rupert Kutzner und dessen „wahrhaft Deutschen“.

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