Ganz Europa ist Inland? Die Kontrollpraxis an den Binnengrenzen lehrt anderes. Der Europäische Gerichtshof protestiert gegen die Parzellierung Europas.

Von Heribert Prantl, München

Es ist jetzt bald fünf Jahre her, dass Helmut Kohl gestorben ist. Wer damals, im Juni 2017, auf der Fahrt in die Ferien gerade bei Kiefersfelden im Stau stand, hat womöglich im Autoradio dabei den Würdigungen aus aller Welt für den verstorbenen Altkanzler gelauscht: es war ein großes Lob auf den Vater Europas, der die grenzenlose Europäische Union mit geschaffen habe. In der Tat war es ganz wesentlich Kohl, der zu seiner Zeit dafür gesorgt hat, dass die Kontrollen an den Binnengrenzen abgeschafft wurden: Vereinbart wurde das 1985 im Vertrag von Schengen, dem Schengener Grenzkodex.

Der Autofahrer hat damals das Lob auf den großen Europäer gehört und dann geflucht – nicht auf Kohl, sondern auf den Stau, auf die Grenzbelästigungen und Kontrollen, die damals schon seit 2015 „wegen der Flüchtlingskrise“ wieder üblich waren und an denen sich bis heute, bis zum Jahr 2022, nichts geändert hat. Kontrolliert wird an den alten EU-Binnengrenzen, kontrolliert wird an den Flughäfen – nicht in allen EU-Ländern, aber in Deutschland, in Österreich, Frankreich, Dänemark und Schweden.

Die Begründungen für dieses uneuropäische Grenzregime werden immer laxer – erst waren es die Flüchtlinge, dann war es der Terrorismus, dann Corona, schließlich ganz allgemein die „innere Sicherheit“. Es ist dies wie eine Verspottung der Europäischen Idee. Diese Idee lautet: Ganz Europa ist Inland. Im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäische Union steht, die EU sei ein Raum des Rechts, der Sicherheit und der Freiheit. Es wäre schön, wenn es so wäre. Zur Freiheit gehört die Freizügigkeit, die jetzt seit vielen Jahren missachtet wird. Die nationalen Regierungen haben erst die Flüchtlingskrise, dann die Corona-Pandemie missbraucht, um Ausnahmeregelung an Ausnahmeregelung zu reihen – um das einst von Kohl betriebene Schengen-Abkommen jahrelang auszusetzen.

Rechtswidrige Grenzkontrollen

Es ist nun schon so lange ausgesetzt, dass Grenzkontrollen, die der Schengen-Vertrag nur ausnahmsweise aus dringenden Sicherheitsgründen erlaubt, zur neuen Regel geworden sind. Die Kontrolle der Binnengrenzen sollte eigentlich an die Außengrenzen verschoben werden – das war das Ziel des Schengen-Abkommens. Wie gesagt: Ganz Europa ist Inland. So sollte es sein, so ist es aber nicht. Soeben, am 26. April 2022, hat der Europäische Gerichtshof entschieden, dass die Grenzkontrollen rechtswidrig sind.

Das Urteil hat wenig Aufmerksamkeit gefunden, viel zu wenig Aufmerksamkeit. Im Schatten des Ukraine-Kriegs hat die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs in Luxemburg ein großes Urteil gefällt: Die permanente Wiedereinführung von Grenzkontrollen an den Binnengrenzen sei mit EU-Recht nicht vereinbar. Es ist dies ein Urteil, das für die Zukunft Europas von eminenter Bedeutung ist: Das Gericht versucht fast verzweifelt, eine der größten Errungenschaften der EU hochzuhalten – die Freizügigkeit. Es wehrt sich dagegen, dass Grenzkontrollen wieder zur Regel geworden sind.

Grenzkontrollen müssen aber, so verlangt es das höchste EU-Gericht, Ultima Ratio, also absolute Ausnahme bleiben; und sie dürfen auch nur vorübergehend wieder eingeführt werden: maximal sechs Monate lang, bei einer ernsthaften Bedrohung der inneren Sicherheit – und nur im Fall einer neuen, anderen Bedrohung – sollen die Grenzkontrollen noch einmal um maximal sechs Monate verlängert werden dürfen. Die Praxis an den Binnengrenzen sieht, wie gesagt, seit dem Jahr 2015, seit der sogenannten Flüchtlingskrise, anders aus: Es wird verlängert, und die Verlängerung wird verlängert und die Verlängerung wird wieder und wieder verlängert; irgendeine Begründung findet sich immer. Die Lösung für die Probleme der Migration findet sich aber nicht am Grenzübergang Spielfeld oder dem in Kiefersfelden.

Wenn der Kragen platzt

Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs bezieht sich auf Österreich, das seit Mitte September 2015 an seinen Grenzen zu den EU-Mitgliedsstaaten Ungarn und Slowenien Kontrollen wieder eingeführt hat. Ein Österreicher hatte dagegen geklagt; er war im November 2019 am Grenzübergang Spielfeld kontrolliert worden, als er von Slowenien kommend nach Österreich einreiste. Weil er sich unter Hinweis auf die Freizügigkeit geweigert hatte, seinen Reisepass vorzuzeigen, war auch noch eine kleine Geldstrafe gegen ihn verhängt worden. Da platzte dem Mann der Kragen – und er klagte beim Landesverwaltungsgericht Steiermark.

Weil das Gericht Zweifel daran hatte, ob der Schengener Vertrag es Österreich erlaube, auf eigene Initiative Grenzkontrollen über eine Gesamthöchstdauer von sechs Monaten hinaus einzuführen, setzte es das Verfahren aus und legte die Fragen dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg zur Vorabentscheidung vor. Luxemburg hat entschieden – gegen die permanenten Grenzkontrollen! Das Urteil hat über Österreich hinaus große rechtliche und politische Bedeutung – weil auch Deutschland, Frankreich, Dänemark und Schweden seit 2015 durchgehend Kontrollen an ihren Binnengrenzen durchführen.

Es ist ein eherner Grundsatz des Schengen-Vertrages, dass die Grenzen zwischen den Mitgliedsstaaten unabhängig von der Staatsangehörigkeit der betreffenden Personen an jeder Stelle ohne Personenkontrollen überschritten werden dürfen. Grenzkontrollen an den Binnengrenzen darf es nur ganz ausnahmsweise und vorübergehend geben.

In Schengen, einem Weindorf in Luxemburg, war 1985 der Vertrag geschlossen worden, der all das halten soll, was Europa seit jeher verspricht: offene Grenzen, uneingeschränkte Reisefreiheit, entfallende Grenzkontrollen. Es hat dann zehn Jahre gedauert, bis der Vertrag in Kraft trat. Viele Länder sind beigetreten, auch Nicht-EU-Staaten wie Norwegen und die Schweiz. Die Schengen-Staaten haben sich verpflichtet, zum Ausgleich für die neue Freizügigkeit strenge Kontrollen an den Außengrenzen zu errichten.

Heimat und Entheimatung

Zwanzig Jahre lang waren die offenen Grenzen im Schengen-Raum die Regel; zwanzig Jahre lang war Europa also im Wortsinn erfahrbar; zwanzig Jahre lang machten offene Grenzen Europa zur Gewohnheit und zur Gewissheit. Wenn sich aber nun seit 2015 in echt oder angeblich heiklen Situationen die Mitgliedsländer aus Sicherheitsgründen in ihr nationales Karo zurückziehen, wenn sie auf diese Weise kundtun, dass sie die kleine Welt des Nationalstaats notfalls für besser halten als Europa – dann muss man sich nicht wundern, wenn antieuropäische Parteien mit einem solchen Programm des Rückzugs ins Nationale Erfolg haben, wenn nationalistische, populistische und rechtsextreme Parteien fast überall in Europa vorankommen. Mit diesen Grenzkontrollen gibt man den Europagegnern recht, deren Credo darauf hinausläuft, dass es ohne oder jedenfalls mit weniger Europa besser geht.

Die neuen alten Nationalisten betrachten Europa als parzellierte Landkarte und stecken in die Felder ihre Fahnen und Namensschilder. „Take back control“ nennen sie das. Ein solch zerstückeltes Europa muss ein Putin nicht fürchten; er nimmt es nicht einmal richtig ernst. Die Antieuropäer sind die Zuarbeiter Putins. Europa muss den Menschen in der EU zur Heimat werden. Grenzkontrollen und Grenzschließungen an den Binnengrenzen sind aber Entheimatungsprogramme; sie sind die Dekonstruktion und Delegitimation Europas. Der Europäische Gerichtshof hält wacker dagegen.


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