Gedanken zum achthundertsten Jubiläum der Weihnachtskrippe. Warum jedes Kind ein Christkind sein soll.

Von Heribert Prantl

Selbst jeder Atheist kann die einschlägigen Requisiten herunterbeten. In der kommenden Woche werden sie aus dem Zeitungspapier des Vorjahres gewickelt: Da ist der Futtertrog mit dem Kind, daneben sind Ochs und Esel, die Hirten, die Schafe und die Engel. Maria und Josef gehören heute selbstverständlich zum Grundbestand, waren aber nicht immer dabei. In den frühen Jahrhunderten interessierte sich das Christentum nämlich weder für einen Vater noch für eine Mutter, sondern allein für das Kind. Statt der Eltern hatte das Kind Ochs und Esel. Die zwei Viecher sind, durch alle Variationen der ost- und westkirchlichen Kunst, das konstanteste ikonografische Element neben dem Kind. Das kommt wohl daher, dass erst Ochs und Esel dessen Liegestatt als Futtertrog kenntlich machen. Sie stehen da anstelle der geflügelten Wesen, die ansonsten die Throne der Mächtigen bewachen; sie markieren die Krippe als einen Offenbarungsort.

Die Weihnachtskrippe hat in diesem Jahr Jubiläum. Franz von Assisi erfand sie vor genau achthundert Jahren. Er präsentierte an Weihnachten 1223 im italienischen Bergdorf Greccio die erste figürliche Darstellung von Christi Geburt. In eine echte Futterkrippe legte er ein aus Wachs geformtes Jesuskind; einige seiner Anhänger stellten die Hirten dar, sie hatten Schafe mitgebracht, dazu Ochs und Esel. Maria und Josef waren noch nicht Teil des Krippenspiels. Das dauerte noch einige Jahrhunderte.

„Auch im Stande der Armut heiter und zufrieden“

Erst die Gegenreformation und die Jesuiten haben dann Maria, Josef und das Kind zur Heiligen Familie formiert, so auch die Krippengeschichte fortgesponnen und den Christen als gottgefälliges Vorbild gegeben: Maria als Hausfrau, die brav am Spinnrad sitzt, Josef als Zimmermann, der still im Hintergrund arbeitet; das Kind wurde zum Musterexemplar: demütig und den Eltern gehorsam, Exempel der Tugend. Die Heilige Familie verkörperte nun die Ideale der christlich-konservativen Hauslehre: Häuslichkeit, Keuschheit, Genügsamkeit. Die Heilige Familie sollte lehren, so schrieben es die christlichen Haus- und Familienbücher noch vor hundert Jahren, „wie man auch im Stande der Dürftigkeit und Armut heiter und zufrieden sein kann“. Das war die Mahnung, sein soziales Schicksal als gottgegeben auf sich zu nehmen und so „Reichtümer für den Himmel“ zu sammeln. Aus dem Erlöser wurde ein Vertröster.

Ochs und Esel haben all diese Wandlungen und Interpretationen ertragen. Sie haben erlebt, wie die sozialrevolutionäre Botschaft der Maria versteckt, wie der Lobpreis auf den Sturz der Mächtigen, den sie in ihrem „Magnificat“ besingt, verschwiegen wurde. Die Kirche hat sich stattdessen krampfhaft bemüht, eine Jungfräulichkeit Marias zu erklären und sexuelle Enthaltsamkeit als das große Ideal zu preisen. Die Kirchenlehrer haben aus der Jungfrauengeburt eine Sexuallehre, ein sexuelles Dogma gemacht; sie haben die Sexualität verdammt und in die Nähe von Schmutz und Sünde gerückt. Sie haben so getan, als sei die Lehre von der Jungfrauengeburt ein Spezialgebiet der Sexualkunde. Jungfrauengeburt meint etwas ganz anderes, nämlich: Das Neue kommt ohne Zutun männlicher Potenz zur Welt – durch die Kraft des Geistes. „Geist“ ist in der hebräischen Bibel feminin, eine „Die“, eine schöpferische, weibliche Kraft: Sie reformiert, sie revolutioniert, sie macht neu. Die Legende von der Jungfrauengeburt legt also die Axt ans Stammbaum-Denken und die klassischen patriarchalen Machtstrukturen.

Beim Aufstellen der Weihnachtskrippe darf einem ein Gedanke kommen: Die heilige Familie war keine heile Familie. Da war eine unverheiratete Frau namens Maria, da war eine ungeplante Schwangerschaft und eine uneheliche Geburt in einem Stall; und da war ein Verlobter, der Josef hieß und sich darüber wilde Gedanken machte, wer das Kind eigentlich gezeugt hat. Es zeigt sich, wie aus problematischen Umständen Heil erwächst. Das nennen wir Weihnachten. Die Weihnachtsgeschichte ist also eine tröstliche Geschichte für die Menschen, die in komplexen Familienstrukturen leben.

Es gibt viele Orte für Kinder, wo sie erfahren: Ich bin wertvoll

Sie lehrt: Als Familie schützens- und unterstützenswert ist jeder Ort, der Kindern Schutz und Nähe gibt. Das mag in vielen Fällen immer noch die Vater-Mutter-Kind-Familie sein. Aber das Recht und die Gesellschaft darf sie nicht zum exklusiven, einzig richtigen Ort idealisieren. Familie ist jeder Ort, an dem ein Kind verlässlich erfahren kann: „Ich bin wertvoll“ und „Ich kann dem Leben vertrauen“. Es gibt viele dieser Orte, an denen Kinder diese wichtigste aller Lebenserfahrungen machen können, nicht nur die Vater-Mutter-Kind-Familie. Auch die Vater-Vater-Kind-Familie. Auch die Mutter-Mutter-Kind-Familie. Auch die Vater-Kind-Familie. Auch die Mutter-Kind-Familie. In Patchwork-Zeiten ist es fast zur Regel geworden, dass Kinder mehrere Väter oder auch Mütter haben, die biologischen und die sozialen Väter und Mütter und Großeltern. Familie ist der Ort verlässlicher Bezugspersonen, wie immer dieser Ort organisiert ist, wie immer die Beziehungen der Menschen dort geflochten und verflochten sind, ob es nun leibliche Eltern sind oder soziale Eltern sind, die den Kindern die Ruhe und Geborgenheit geben, die sie brauchen. Wenn das gelingt, dann ist Weihnachten. Und dann ist jedes Kind ein Christkind.

 


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