Warum Menschen mit Behinderung zu Recht in Karlsruhe geklagt haben. Und warum es so wichtig ist, dass sie recht bekommen haben. Das Selbstverständliche ist nämlich in der Pandemie nicht mehr selbstverständlich.

Von Heribert Prantl

Wer darf leben? Wer muss sterben? Das Bundesverfassungsgericht hat angeordnet, dass es für den Fall des Falles, also für die Triage in Pandemiezeiten, „unverzüglich“ gesetzliche Vorgaben geben muss. Das ist eigentlich selbstverständlich. Schließlich werden auch für die Organspende die Kriterien und Abläufe per Gesetz genau geregelt. Das muss immer so sein, wenn es um Leben und Tod geht; alle wesentlichen Dinge müssen in einem Rechtsstaat in einem Gesetz stehen. Und was ist wesentlich – wenn nicht die Fragen von Leben und Tod? Als ich zum ersten Mal von den Verfassungsklagen hörte, die in Karlsruhe erhoben wurden, um ein Triage-Gesetz zu erzwingen, dachte ich mir deshalb: Recht so! Es muss, so gut es nur geht, Klarheit, Rechtssicherheit und Transparenz geben in den furchtbaren Situationen, in denen Ärzte darüber entscheiden müssen, wer beatmet wird und wer nicht, wenn und weil es zu wenig Beatmungsgeräte gibt.

Gewiss, es ist, es wäre eine Schande, wenn in einem der reichsten Staaten der Welt nicht genügend Beatmungsgeräte zur Verfügung stünden. Aber mit der Empörung darüber ist den Kranken in Atemnot dann nicht geholfen. Es haben daher beim Bundesverfassungsgericht Menschen mit Behinderung geklagt, die befürchteten, in der Pandemie wegen ihrer Behinderung schlechter behandelt oder gar von einer lebensrettenden Behandlung ausgeschlossen zu werden. Sie wollten in einem Gesetz auch für den Fall der Triage ausdrücklich festgestellt wissen, was im Grundgesetz schon glasklar steht: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“ Und ich fragte mich wiederum: Ist das aber nicht selbstverständlich? Ist es nicht selbstverständlich, dass das grundlegende Diskriminierungsverbot auch in den Not- und Pandemiezeiten gelten muss?

Die Antwort ergibt sich aus den Erfahrungen der vergangenen zwanzig Monate: Das Selbstverständliche ist nicht selbstverständlich, in Pandemiezeiten schon gleich gar nicht. Das haben wir erlebt und das erleben wir immer noch. Wir haben Grundrechtseingriffe erlebt, wie sie zuvor unvorstellbar waren; wir haben erlebt, wie die Bildungs-, Kultur- und Freizeiteinrichtungen geschlossen, wie durch die Corona-Bekämpfungsmaßnahmen wirtschaftliche Existenzen vernichtet und Bildungschancen reduziert wurden – und wie das alles als Preis für die Covid-Bekämpfung hingenommen wurde. „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“? Wer mag den Menschen mit Behinderung ihre Angst verdenken, dass auch das in Pandemiezeiten nicht mehr gelten könnte? Zumal da ein Blick in die derzeitigen Empfehlungen der Ärzteverbände für die Priorisierung knapper medizinischer Ressourcen zeigt, dass die Erfolgsaussichten der medizinischen Intensivbehandlung dabei eine entscheidende Rolle spielen; und Gebrechlichkeit könnte da als negativer Indikator gelten. Das darf nicht sein.

Nach den Pandemie-Erfahrungen wissen wir jetzt alle, was „vulnerable Gruppen“ sind, nämlich die Menschen mit Behinderung, die chronisch Kranken, die Alten und sonst Gefährdeten. Es ist zum Pandemie-Imperativ geworden, dass sie ganz besonders geschützt werden müssen. So sind ja auch all die genannten Einschränkungen begründet worden. Die Gebrechlichkeit hat also enorm viel Aufmerksamkeit erfahren, und um des Schutzes der Gebrechlichen willen sind viele Verzichte auferlegt worden. Dieser Schutz braucht in Triage-Situationen seine Bestätigung.

Was im Grundgesetz schon glasklar steht

„Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“: Der Satz steht seit 27 Jahren im Grundgesetz, seit der Verfassungsreform nach der deutschen Einheit. Und trotzdem: Schon in Vor-Pandemie-Zeiten war dieser Grundrechtsschutz löchrig. Achtzigtausend Menschen mit Behinderung waren bis zum Jahr 2019 vom Wahlrecht ausgeschlossen. Das Bundesverfassungsgericht musste den Gesetzgeber zwingen, auch die Menschen wählen zu lassen, denen dauerhaft ein Betreuer zur Besorgung ihrer Angelegenheiten zur Seite gestellt ist. Die Politik war bis dahin – paternalistisch und bevormundend, aber bezeichnend – davon ausgegangen, dass diese betreuten Menschen zum Wählen objektiv untauglich seien. Die Frage aber, ob jemand zur Wahl gehen darf oder nicht, darf nicht davon abhängen, wie clever er ist. Das hat Karlsruhe dann erst 2019 unmissverständlich festgestellt. Der Berliner Journalist und Kollege Raul Krauthausen, Gründer des Netzwerks Sozialhelden e. V., hat dazu treffend gesagt: „Wenn es nach der Intelligenz geht, wüsste ich noch einige andere, die nicht wählen dürfen.“ Das Selbstverständliche ist nicht selbstverständlich.

Die diskriminierende Betrachtung von Menschen mit Behinderungen, die sich bis 2019 in den Wahlgesetzen gezeigt hat, setzt sich bis heute fort in den Empfehlungen der medizinischen Fachverbände für die Triage. Die Empfehlungen in ihrer jetzigen Fassung, so das Bundesverfassungsgericht, tragen das Risiko einer negativen Stereotypisierung in sich. Es muss, so fordern die höchsten Richter deshalb für das zu erlassende Triage-Gesetz, sichergestellt sein, „dass allein nach der aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit entschieden wird“ – also nicht nach Vorstellungen und Vorurteilen darüber, welche Leben wertvoll und welche weniger wertvoll sind. Andere Kriterien als die aktuelle und kurzfristige Überlebenswahrscheinlichkeit sollen also, so gut es nur irgend geht, ausgeschlossen werden.

Die Triage beginnt im Kopf: Taylor Nichols, ein jüdischer Krankenhausarzt in Kalifornien, hat vor einiger Zeit berichtet, wie ein Corona-Patient zu ihm eingeliefert wurde. Zusammen mit einer afroamerikanischen Krankenschwester und einem asiatischstämmigen Atemwegsspezialisten bereitete er die Beatmung des Patienten vor. „Das Hakenkreuz prangte auf seiner Brust“, schrieb er auf Twitter. „Der Kranke war über und über mit SS-Tattoos dekoriert. Wir wussten alle, was er von uns denkt. Welchen Wert er unseren Leben beimisst.“ Der Arzt Taylor Nichols hat gleichwohl seine Arbeit getan. Er hat getan, was er tun konnte – alles, was medizinisch möglich war, um den Mann zu retten. Er habe aber, sagte der Arzt, zum ersten Mal gemerkt, dass er gezögert und einen Zwiespalt empfunden habe: „Die Pandemie hat mich erschöpft.“ Das Recht muss solcher Erschöpfung vorbeugen.

Wie darf man Kranke sortieren? Es sind Fragen, die in Abgründe führen

Darf man Corona-Kranke sortieren, wie es das Aschenputtel mit den Erbsen und den Linsen tut? Darf man den Wert von Leben messen und vergleichen, wenn verschiedene Leben miteinander konkurrieren? Darf der Impfstatus dabei eine Rolle spielen? Darf das Alter eine Rolle spielen? Ist ein junges Leben mehr wert als ein altes? Ist ein Leben ohne Behinderung wertvoller als ein Leben mit Behinderung? Darf die Lebensführung des Kranken berücksichtigt werden? Darf einem Kranken in einer Triage-Situation die Hilfe verweigert werden, weil er nicht den richtigen Glauben hat oder weil er sich strafbar gemacht hat? Darf eine Rolle spielen, ob der Kranke ein braver Mensch oder ein grässlicher Widerling ist? Darf eine Rolle spielen, ob er sich selbst in die Lage gebracht hat, in der er sich befindet? Im Zusammenhang mit der Triage werden solche Fragen diskutiert.

Es sind Fragen, die in Abgründe führen, wenn man sie nicht kategorisch mit „Nein“ beantwortet. Das Bundesverfassungsgericht hat in der vergangenen Woche damit begonnen – es hat damit begonnen, solche Fragen mit „Nein“ zu beantworten. Nein, der Wert eines Lebens kann und darf nicht gemessen werden. Nein, die medizinische Behandlung darf nicht vom Lebenswandel des Kranken abhängig gemacht werden. Nein, das Lebensrecht darf nicht von politischen Einstellungen des Kranken oder von sonstigen utilitaristischen Erwägungen abhängig gemacht werden. Nein, das Krankenhaus darf kein Ort werden, an dem Sanktionen vollzogen werden. Nein, die Menschenwürde ist nicht davon abhängig, dass sich ein Mensch echt oder vermeintlich würdig verhält.

 


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