Unsere vergessenen Vorbilder und die Verbeugung vor ihnen im Grundgesetz: Gedanken zum 20. Juli, dem 80. Jahrestag des Attentats auf Adolf Hitler.
Von Heribert Prantl
20. Juli: Das Datum steht für das fehlgeschlagene Attentat auf Adolf Hitler. Vor achtzig Jahren, am 20. Juli 1944 scheiterte der Bombenanschlag des Claus Schenk Graf von Stauffenberg auf Hitler und damit die gesamte „Operation Walküre“. Sie war der späte militärische Versuch, die Naziherrschaft zu stürzen. Die Widerstandskämpfer vom 20. Juli waren überwiegend keine Demokraten, nicht wenige von ihnen hatten zuvor dem Hitler-Regime gedient und waren selbst in unterschiedlichem Maß schuldig geworden. Sie hatten aber dann, mit sich ringend, den Weg zum Widerstand gefunden. Mit bemerkenswerter Unerschrockenheit traten sie dem Henker entgegen. Unter den mehr als zweihundert hingerichteten Widerständlern vom 20. Juli waren 19 Generäle.
Neben den meist aristokratischen Namen vom 20. Juli 1944 stehen die Namen der kommunistischen und sozialdemokratischen Widerständler, von denen so viele in den Konzentrationslagern umkamen; die Namen der Roten Kapelle zum Beispiel; dazu die Namen der Weißen Rose und die des Nationalkomitees Freies Deutschland, dazu der Name des einsamen Attentäters Georg Elser, der schon 1939 im Münchner Bürgerbräukeller eine Bombe gezündet hatte; dazu die Namen der christlichen Widerständler, des Kardinals Graf von Galen etwa, des Jesuiten Alfred Delp, des evangelischen Theologen Dietrich Bonhoeffer.
„Überall, unter allen Umständen und mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln“
Da waren so völlig unterschiedliche Persönlichkeiten wie der Publizist Fritz Gerlich und der Sozialdemokrat Hermann Louis Brill. Der streng konservative Gerlich war ein erbitterter Gegner von Hitler und ein Verehrer der katholischen Mystikerin Resl von Konnersreuth. Brill war ein Sozialdemokrat, der als Vorsitzender eines Untersuchungsausschusses des Thüringischen Landtags 1932 Hitler vernommen hatte und seine Eindrücke dann wie folgt beschrieb: „Er erschien mir als hysterischer Brutalist, ungebildet, zynisch, durch und durch unwahrhaftig, arrogant, unbeherrscht, bereit, jeden anderen physisch oder moralisch niederzuschlagen. Am 14. März 1932 fasste ich den Entschluss, mich diesem Mann zu widersetzen, zu jeder Zeit, überall, unter allen Umständen und mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln.“
Es gab nicht so viele ihresgleichen, es gab nicht so viele mit diesem unbändigen Widerstandswillen wie Gerlich und Brill. Der Historiker Hans Mommsen schrieb einmal in einer kraftvollen Analyse über den Aufstieg des Nationalsozialismus in Deutschland: „Nicht überlegene Manipulation und Herrschaftstechnik, sondern mangelnde Widerstandskraft der deutschen Gesellschaft gegen die Zerstörung der Politik“ sei die entscheidende Ursache für die deutsche Katastrophe gewesen. Die Tragik des Widerstands besteht daher auch darin, dass der Widerstand nicht oder erst viel zu spät zueinander fand – erst in den Mordlagern der Nazis. Gerlich wurde sofort nach der Machtübernahme der Nazis im KZ Dachau inhaftiert und 16 Monate später erschossen. Brill überlebte das KZ Buchenwald, wurde dann einer der Väter des Grundgesetzes.
Vom Gewissen in einer Zeit der Gewissenlosigkeit
Hermann Brill war Sohn eines Schneidermeisters im thüringischen Gräfenroda, Volksschullehrer, Kriegsteilnehmer von 1914 bis 1918, Mitglied der USPD, seit 1922 der SPD, mit 28 Jahren Ministerialdirektor im Thüringer Innenministerium. 1924, nach einem Regierungswechsel in Thüringen, ging er zurück an die Uni, studierte Jura, politische Philosophie und Soziologie, blieb dabei weiter Landtagsabgeordneter.
Vom NS-Volksgerichtshof wurde Brill wegen Hochverrats zu zwölf Jahren Zuchthaus verurteilt, von US-Truppen im April 1945 aus dem KZ Buchenwald befreit. Dort hatte er in Zusammenarbeit mit sozialdemokratischen, kommunistischen und christlichen Häftlingen programmatische Grundlagen für eine Nachkriegspolitik entwickelt. Die Amerikaner ernannten ihn zum ersten Regierungschef von Thüringen, die Sowjets warfen ihn alsbald wieder aus dem Amt, danach wurde er in Hessen Staatssekretär und Chef der Staatskanzlei. Er nahm klug und beredt, geplagt von Krämpfen, an den Grundgesetzberatungen von Herrenchiemsee teil, war Mitglied des 1. Bundestags. Er starb 1959 mit 64 Jahren, gezeichnet von den Jahren der Nazi-Haft.
Fritz Gerlich war Leitartikler gegen Hitler, Chefredakteur erst der Münchner Neuesten Nachrichten, dann der katholischen Zeitung Der Gerade Weg, die laut und eindringlich vor Hitler warnte. Er tat das unter anderem mit dem prophetisch-düsteren Satz: „Nationalsozialismus heißt Lüge, Hass, Brudermord und grenzenlose Not.“ Gerlich wurde von Nationalsozialisten sofort nach deren Machtübernahme inhaftiert, gefoltert und nach 16-monatiger Haft in der Nacht zum 1. Juli 1934 ermordet. Gerlich war ein Gewissen in einer Zeit der Gewissenlosigkeit, er war es schon vor der Zeit, in der die große Masse der Deutschen bereit war, dem Kabinett Hitler einen Vertrauensvorschuss einzuräumen.
Der schon zitierte Historiker Hans Mommsen analysierte dazu: „Die Vorstellung, das System von innen reformieren zu können, hielt sich auch bei den oppositionellen Gruppen ungewöhnlich lang.“ Leute wie Brill und Gerlich hatten eine solche Illusion nie. Viele Kritiker im bürgerlichen Widerstand lehnten Hitlers innenpolitische Methoden ab, stimmten aber in manchen außen- und militärpolitischen Zielsetzungen mit ihm überein, weil ihnen die Werte „Freiheit“ und „Menschenwürde“ weniger galten als die Großmachtstellung Deutschlands. Widerständler wie Gerlich und Brill waren anders, sie ließen sich nicht einwickeln, nicht umgarnen, nicht politisch korrumpieren.
Hermann Brill ist leider ziemlich vergessen im bundesrepublikanischen Bewusstsein; und sein Vorbild ist auch bei den Feiern zum fünfundsiebzigsten Grundgesetzjubiläum kaum zur Kenntnis genommen und gewürdigt worden. Die katholische Kirche immerhin hat für Gerlich ein Seligsprechungsverfahren eingeleitet. Zur Aufklärung für Nichtkatholiken: Es geht da um eine Vorstufe zur Heiligkeit, eine Art christliche Gesellenprüfung, der dann die Meisterprüfung folgen kann. Der Journalist und Widerstandskämpfer Fritz Gerlich wäre dann ein Heiliger. Aber schon die Seligsprechung führt dazu, dass ein Mensch in den Kirchen öffentlich verehrt werden darf. Gerlich sei eine bizarre Persönlichkeit und ein cholerisches Temperament mit einem „Konvertitenfimmel“ gewesen – so heißt es in diesem Zusammenhang bisweilen, weil der Calvinist zum Katholizismus übergetreten war. Es wäre freilich gut gewesen, wenn es ein paar mehr solcher angeblich bizarrer Persönlichkeiten gegeben hätte – und weniger Mitläufer, die erst nach 1945 ihre Distanz zum Nationalsozialismus entdeckten. Bei ihnen nämlich handelt es sich um bizarre Persönlichkeiten.
Das Erbe des Widerstands heute: ein waches Gewissen
Im Grundgesetz stehen zwei Artikel, die ein Vermächtnis des Widerstands gegen Hitler sind. Da ist der Artikel 1: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Und da ist der Artikel 20 Absatz 4; er ist eine Verbeugung vor den Widerständlern gegen Hitler, er ist Mahnung und Appell: Gegen jeden, der es unternimmt, die Grundrechte zu beseitigen, „haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.“ Dieser Satz stand nicht von Anfang an im Grundgesetz, er kam erst 1968 mit der Notstandsverfassung hinein. In diesem Widerstandsartikel steckt die Aufforderung, es nicht so weit kommen zu lassen, dass es den großen Widerstand braucht; dieser Artikel ist also auch die Aufforderung und Anstiftung zum kleinen Widerstand. Mit diesem kleinen Widerstand feiert man das Grundgesetz.
Dieser Widerstand hat wenig mit Revolution, aber viel mit Evolution zu tun. Er verlangt Leidenschaft und Geduld, aber nicht Schafsgeduld, sondern eine geduldige Ungeduld. Dieser kleine Widerstand, so hat das der Rechtsphilosoph Arthur Kaufmann einmal formuliert, „ist die bewegende Kraft, deren das Recht und der Rechtsstaat zu ihrer fortwährenden Erneuerung und damit zur Verhinderung ihrer Entartung bedürfen“. Wenn es solchen Widerstand gibt, dann gelingt der Politik die Mobilisierung der menschlichen Dummheit nicht, dann bleibt das Gewissen der Menschen wach.