Kann die Verhaftung von Daniela Klette ein Licht ins Dunkel der vielen unaufgeklärten Verbrechen bringen?

Von Heribert Prantl

Die RAF bleibt ein dunkles, ein erschreckend unaufgeklärtes Kapitel in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Die Verhaftung von Daniela Klette, einer Spät-Terroristin der RAF, ändert daran erst einmal nichts. Die Verhaftung weiterer untergetauchter Mitglieder der RAF wird erwartet, ist aber auch noch nicht per se ein Lichtblick. Es wird darauf ankommen, was und wie die Festgenommenen aussagen. Werden sie auspacken? Werden sie die Kronzeugenregel nutzen? Werden Sie über ihr Leben im Untergrund Auskunft geben? Daniela Klette war womöglich 1993 am letzten Terroranschlag der RAF beteiligt, an der Sprengung des Neubaus der hessischen Justizvollzugsanstalt Weiterstadt. Über die Täter dieses Anschlags, bei dem Menschen nicht zu Schaden kamen, weiß man bisher so viel wie über alle Morde und Mordversuche seit 1985: nichts. Und bei den Verbrechen vor 1985 kennt man zwar viele der Täter, aber bei Weitem nicht alle.

Selbst bei den Verbrechen, die als aufgeklärt gelten, ist viel unklar geblieben. Wer genau hat im April 1977 den Generalbundesanwalt Siegfried Buback erschossen? Die Tat ist 47 Jahre her. Man weiß es nicht. Man weiß so viel noch nicht, man weiß ab 1985 gar nichts mehr. Der Mord an Manager Ernst Zimmermann, Chef der Motoren- und Turbinen-Union, 1985 in Gauting erschossen, ist nicht im Ansatz geklärt. Auch nicht geklärt ist der Mord an Karl Heinz Beckurts, Siemens-Vorstandsmitglied, und seinem Fahrer 1986 in Straßlach bei München. Auch nicht geklärt ist die Ermordung des Spitzendiplomaten Gerold von Braunmühl 1986 in Bonn; auch nicht geklärt ist die Ermordung von Alfred Herrhausen, Vorstandssprecher der Deutschen Bank, 1989 in Bad Homburg. Auch nicht geklärt ist die Ermordung von Detlev Karsten Rohwedder, Leiter der Treuhandanstalt, 1991 in Berlin. Man fragt sich immer wieder, worin der größere Skandal besteht: im Desaster der Ermittlungen oder darin, dass dieses Desaster offensichtlich kaum noch jemanden rührt. Es wäre ein Wunder, wenn daran die Verhaftung der Spät-Terroristin Daniela Klette etwas ändern würde.

Zwar wurden drei Terroristen als Mörder von Generalbundesanwalt Buback verurteilt: Knut Folkerts, Christian Klar und Brigitte Mohnhaupt. Wer von ihnen hat damals, 1977, genau was getan, wer war der unmittelbare Täter oder die unmittelbare Täterin? Wer war ansonsten noch am Mord beteiligt? Bubacks Sohn kämpfte jahrelang um mehr Aufklärung; es gab sie nicht. Die Bundesanwaltschaft ermittelte ein paar Jahre herum, stieß aber dabei auf die Spuren ihres eigenen Versagens in den Jahren 1977 ff. Sie stieß auf ungenügend ausgewertete Sachbeweise; sie stieß auf einen unwilligen Verfassungsschutz, der seine Hand auf die Akten legte; sie stieß auch noch auf sonstige Ärgernisse: Bund und Länder hatten einen Teil der geheimen Verschluss-Sachen bereits vernichtet. Die 2007 neu aufgenommenen Ermittlungen wurden 2015 wieder eingestellt.

Weil die Justiz die Details und die genauen Tatabläufe nicht klären konnte, hat sie die Angeklagten entweder pauschal wegen „Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung“ bestraft oder aber, weil sie irgendwie dabei waren, wegen Mittäterschaft. Das war juristisch sauber, aber tatsächlich unbefriedigend. Die verurteilten Täterinnen und Täter sind nach Jahrzehnten freigelassen worden – entweder gnadenhalber vom Bundespräsidenten oder aus Rechtsgründen vom Gericht, weil die Verurteilten fast dreißig Jahre lang im Gefängnis gesessen hatten. Auch Schwerverbrecher mit dürftiger Schuldeinsicht sollen, das gehört zum Rechtsstaat, wenn sie ausreichend gebüßt haben und nicht mehr gefährlich sind, die Chance auf ein Rest-Leben in Freiheit haben. Die Entlassung von Leuten wie Christian Klar auf Bewährung war nicht ein Zeichen der Schwäche, sondern der Stärke des Rechtsstaats. Es gibt freilich viele Menschen, die für diese Freilassungen kein Verständnis hatten und haben. Aufgabe des Strafjuristen ist aber nicht nur das Einsperren, sondern auch das Aufsperren: Die Öffentlichkeit muss aufgesperrt werden für die Gedanken eines humanen Strafrechts.

Die RAF gibt es nicht mehr; sie hat sich aufgelöst. Womöglich hat die großzügige Begnadigungspraxis, die unter Bundespräsident Richard von Weizsäcker begonnen hatte, daran, an der Selbstauflösung der RAF, ihren guten Anteil. Wenn es so ist, dann war die Gnade erfolgreicher als die Kriminalistik und die Justiz. Die Auflösungserklärung der RAF wurde am 20. April 1998 bekannt. Horst Herold, der geniale Chef des Bundeskriminalamts von 1971 bis 1981 (in dieser Zeit hat er die sogenannte erste und zweite Generation der RAF zerschlagen) reagierte damals erst einmal skeptisch: „An Hitlers Geburtstag erklärt die RAF nicht ihre Auflösung.“ Im SZ-Interview vom 22. April 1998 kam er dann nach intensivem Studium der Auflösungserklärung doch zu einem anderen Ergebnis: „Der achtseitige Text ist unausgewogen und RAF-historisch kenntnislos. In Stil und Schlußfolgerungen weicht er von früheren Erklärungen ab.“ Trotzdem sei er als „gruppenauthentisch“ anzusehen. Aber, so fuhr Herold fort: „Die Autoren geben zu verstehen, dass sie von der alten RAF nichts verstehen. Der Text stammt von den Nachgeborenen, also von der 4. Generation. Die Beschränkung auf diesen Personenkreis wird durch verschiedene Umstände belegt: die relative Unkenntnis der Handlungen und Motive der ersten und zweiten Generation, die Fehldeutung von deren Absichten, die starke Hervorhebung der achtziger Jahre.“ Seit der RAF-Auflösung treten Ex-RAF-Mitglieder nur noch bei Geldbeschaffungsüberfällen in Erscheinung. Solche Raubüberfälle werden auch Daniela Klette angelastet.

Der vor vier Jahren verstorbene Großkriminalist Herold, der bis heute als Symbolfigur einer erfolgreichen Terrorismusbekämpfung gilt, beurteilte seinerzeit das RAF-Auflösungspapier von 1998 so: Es sei „ein Grabstein, den sich die RAF selbst setzt“. Es könnte sein, dass Daniela Klette an dieser Grabstein-Aktion beteiligt war, es könnte sein, dass sie als Spät-Terroristin an dem Auflösungs-Papier mitgeschrieben hat. Sie kennt wohl die Reste des alten RAF-Wurzelgeflechts im Untergrund. Mykorrhiza nennt man das bei den Pilzen im Waldboden. Vielleicht hilft die Kronzeugenregelung dabei, die Mykorrhizen aufzuspüren.

 


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