Wie ein kluger Rechtsstaat auf den Strafprozess in Frankreich und dessen Folgen reagieren muss. Es gibt Lehren auch für Deutschland. Es geht um das Verhältnis von Macht und Recht.

Von Heribert Prant

Marine Le Pen wird nicht aus dem Weg geräumt; sie räumt sich selbst aus dem Weg. Sie hat von 2004 bis 2016, also zwölf Jahre lang, öffentliche Gelder veruntreut. Dafür wurde die Rechtsaußen-Politikerin soeben verurteilt. Die Beweislage war und ist erdrückend. Le Pen versucht, sich mit leidenschaftlicher Dreistigkeit als Opfer zu präsentieren, auf diese Weise die Wähler über den Tisch zu ziehen und quasi die Demokratie gegen den Rechtsstaat in Stellung zu bringen.

Sie will Präsidentschaftskandidatin bleiben und französische Präsidentin werden, obwohl ihr das Strafgericht die Wählbarkeit für fünf Jahre aberkannt hat. Das Gesetz sieht die Nebenstrafe der Unwählbarkeit bei Korruptionsdelikten obligatorisch vor; die Justiz hat da kein Ermessen. Das Gericht in Paris hat Marine Le Pen auch nicht härter bestraft, als sie andere hochrangige Politiker wegen einschlägiger Delikte bestraft hat: Alain Juppé, Bürgermeister von Bordeaux, ehemaliger Premierminister und Bewerber um die französische Präsidentschaft, wurde 2004 wegen Vorteilsnahme zu 18 Monaten Haft und mit zehn Jahren Unwählbarkeit bestraft; später wurde das Urteil gemildert. Und François Fillon, Minister in verschiedenen Kabinetten, Premierminister unter Präsident Sarkozy und dann selbst Präsidentschaftskandidat, wurde 2020 wegen Veruntreuung staatlicher Gelder zu fünf Jahren Haft und zehnjähriger Unwählbarkeit verurteilt. Eine Extrawurst, wie sie das Berufungsgericht nun für Le Pen braten will, bekamen diese Politiker nicht gebraten. Für Le Pen will die Justiz den Termin für den Berufungsprozess ungewöhnlich schnell ansetzen, noch weit vor der Präsidentschaftswahl im Jahr 2027; sie reagiert damit auf den öffentlichen Druck, den Le Pen und ihre große Anhängerschaft gemacht haben. Ob freilich das Ergebnis des Berufungsprozesses so ausfällt, wie sich Le Pen das wünscht, dass sie also doch noch zur Wahl zugelassen wird – das ist ganz und gar nicht gewiss.

Kein einziges Wort der Entschuldigung

Der Mitte-Rechts-Politiker Fillon hat sich, anders als heute Le Pen, schuldeinsichtig gezeigt: „Es war ein Fehler und ich entschuldige mich bei den Franzosen.“ Die politische Karriere von Juppé und Fillon war mit ihren Straftaten zu Ende. Von Le Pen ist nun kein einziges Wort der Entschuldigung zu hören. Sie präsentiert sich als angebliches Opfer der Justiz, vergleicht sich mit Ekrem İmamoğlu, dem Bürgermeister von Istanbul; der türkische Präsident Erdoğan hat ihn mit fadenscheinigen Vorwürfen von seiner willfährigen Justiz ins Gefängnis werfen lassen, um einen politischen Konkurrenten loszuwerden. Le Pen scheut sich auch nicht, eine Parallele zwischen sich und dem russischen Dissidenten Alexej Nawalny zu ziehen; Nawalny war ein Oppositionspolitiker, der seit 2010 als Kritiker der Korruption in seinem Land öffentlich in Erscheinung trat; er machte das Putin-Regime dafür verantwortlich – das ihn dann 2024 dafür mit hoher Wahrscheinlichkeit ermorden ließ. Le Pen trat selbst als korrupt in Erscheinung und will sich nun dafür feiern lassen als Kämpferin gegen das „System“. Das ist eine freche Unverschämtheit; Le Pen disqualifiziert sich mit solcher Anmaßung ebenso wie mit ihren Straftaten. Die 56-Jährige ist eine falsche Fuffzigerin.

Unterstützt von Orbán, Putin und Trump

Es ist bezeichnend, von wem Le Pen verteidigt wird. Einer der Ersten war der ungarische Präsident Viktor Orbán, der sich mit dem Satz „Je suis Marine“ zu Wort meldete. Das ist noch untertrieben, weil Orbán noch sehr viel mehr Dreck am Stecken hat als Le Pen. Und der Kremlsprecher Dmitri Peskow, gewiss ein Fachmann für Demokratie, äußerte sogleich nach der Urteilsverkündung, es seien hier „demokratische Normen verletzt“ worden. Zu Orbán und Putin gesellen sich als Verteidiger Le Pens der US-Präsident Trump, der der französischen Justiz unterstellt, sie sei so lenkbar und korrupt, wie er das selbst von seiner US-Justiz fordert; die „europäische Linke“ nutze den Justizapparat, um Meinungsfreiheit zu verhindern und um politische Gegner sogar ins Gefängnis zu bringen. Die Autokraten und Despoten entlarven sich damit selbst: Sie gehen davon aus, die rechtsstaatliche französische Justiz agiere so regierungshörig, wie sie es in ihrem eigenen Land von ihrer Justiz verlangen.

Von neofaschistischen Positionen beeinflusst

Die Bielefelder Strafrechtsprofessorin Charlotte Schmitt-Leonardy, eine Spezialistin für interdisziplinäre Rechtsforschung, hat zum Fall Le Pen im Verfassungsblog geschrieben: „Die Herausforderung eines funktionierenden Rechtsstaates in einer zunehmend polarisierten und von neofaschistischen Positionen beeinflussten Gesellschaft besteht nicht mehr nur darin, das Recht korrekt anzuwenden. Geboten sind auch kluge Strategien im Umgang mit Narrativen, die den Rechtsstaat unterminieren.“ Und sie fügt dann hinzu: „Aber so schwer ist das nicht. Fangen wir also damit an zu erklären, dass hier allgemeingültiges Recht auf eine Politikerin angewandt wurde, die ihr Amt missbraucht und Millionenschaden angerichtet hat.“ Marine Le Pen und ihre Partei, der damalige Front National (heute Rassemblement National), erhielten 2014 einen Kredit in Höhe von neun Millionen Euro von der russischen First Czech-Russian Bank. Dieser Kredit wurde verwendet, um Wahlkämpfe in Frankreich zu finanzieren. Die Strafrechtsprofessorin fährt fort: „Und beruhigen wir uns: Hier hat nicht die Justiz den ‚politischen Tod‘ einer zukünftigen Präsidentschaftskandidatin zu verantworten – es war ein (leicht vermeidbarer) politischer Freitod.“

Die Löcher schließen

Zu den gebotenen klugen Strategien gehört es, die durchaus vorhandenen Löcher in der Rechtsstaatlichkeit der Justiz zu schließen. Zu diesen Löchern gehören in Deutschland die politische Weisungsabhängigkeit der Staatsanwaltschaft und die derzeitige völlige Intransparenz dieser Weisungen. Der EU-Gerichtshof hat deshalb schon 2019 den deutschen Staatsanwaltschaften verboten, EU-Haftbefehle auszustellen. Begründung: Die Staatsanwaltschaft in Deutschland sei nicht ausreichend unabhängig von der Politik, wie es im europäischen Recht vorgeschrieben wird. Die deutsche Politik hat sich darum bisher kaum geschert. Sie verweist gern darauf, dass es doch in der Praxis nur selten solche Weisungen gebe. Das mag sein. Aber es sind dies immer die heiklen Verfahren. Sie ziehen sich durch die Geschichte der Republik.

Zuletzt hat sich das gezeigt, als Bundesjustizminister Marco Buschmann im Jahr 2024 den widerstrebenden Generalbundesanwalt Jens Rommel angewiesen hat, eine politische Entscheidung juristisch zu begründen: Die Weisung bestand darin, den russischen Auftragsmörder Wadim Krassikow aus deutscher Strafhaft zu entlassen und ihn nach Russland auszufliegen, um so einen Gefangenenaustausch zu ermöglichen. Das war eine politische Weisung. Und eine solche Weisung gab es auch, als ein Hamburger Staatsanwalt von seinem Generalstaatsanwalt gezwungen wurde, den Politiker Gregor Gysi anzuklagen. Es kam nichts dabei heraus. So war es auch, als der ehemalige Bundespräsident Christian Wulff von der Staatsanwaltschaft mit besessener Hartnäckigkeit traktiert wurde. Solchen Missbrauch der Weisungsabhängigkeit gibt es immer wieder. Da besteht Handlungs- und Korrekturbedarf.

Die Rechtsstaatlichkeit stärken und polieren

Bei den Gerichten besteht so ein Handlungs- und Korrekturbedarf auch. Die rechtsprechende Gewalt ist im Grundgesetz ja nicht den Behörden, nicht der Ministerialverwaltung und nicht einem Justizminister oder einer Justizministerin anvertraut – sondern den Richtern. Organisatorisch wird das aber derzeit anders gehandhabt. Die Justiz wird von der Exekutive verwaltet und mit Personal ausgestattet. Die Richter sind einem System der Bewertung und Beförderung unterworfen, das von einem Ministerium, also von der Exekutive, dirigiert wird. In manchen Landesministerien werden die Gerichte sogar als „nachgeordnete Behörde“ bezeichnet. Unabhängigkeit verlangt also Abnabelung der Justiz von der Exekutive, verlangt die Selbstverwaltung der Justiz der Richter.

Es gibt also einiges zu tun, um die Rechtsstaatlichkeit von Gerichten und Staatsanwaltschaften in Deutschland zu polieren. Und diese Maßnahmen sind zugleich ein Schutz gegen einen womöglich drohenden Zugriff der AfD auf die Justiz. Die Justiz muss widerstandsfähig werden gegen jegliche Einflussnahmen. Das ist der Sinn der Gewaltenteilung. Und das ist Vorbeugung gegen Missbrauch.


Newsletter-Teaser