Europa „als Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ steht nur noch auf dem Papier. Wir erleben einen Pushback in die Rechtlosigkeit – Salvini überall.
Von Heribert Prant
Wer Glück hat, darf in einem winzigen Container wohnen. Wer kein Glück hat, lebt zusammen mit anderen Familien im Zelt. Das Zelt bleibt ungeheizt, auch wenn es demnächst wieder saukalt wird. Das Camp ist mit Stacheldraht eingezäunt. Fließendes Wasser gibt es nicht. Und es gibt viel zu wenige Duschen und Toiletten. Die hygienischen Bedingungen, die Versorgungs- und Sicherheitslage – alles zum Erbarmen. Im Gemeinschaftszelt hat jede Familie acht Quadratmeter zur Verfügung.
So war es im berüchtigten griechischen Flüchtlingslager Moria auf Lesbos, das abgebrannt ist. In den Nachfolgelagern und den anderen Hotspot-Lagern ist es nicht viel anders. Solche Hotspot-Lager sollen, das ist das neue EU-Flüchtlingskonzept, an allen EU-Außengrenzen errichtet werden. Der damalige Bundesminister für Entwicklungshilfe, Gerd Müller (CSU), hat nach einem Besuch in so einem griechischen Lager davon gesprochen, dass man nicht von einem Flüchtlingslager, „sondern von einem Gefängnis“ reden müsse. In so einem Lager wurden und werden Babys und Kleinkinder von Ratten gebissen; die Tetanusimpfung durch Hilfsorganisationen wird dann zum Weihnachtsgeschenk.
Unfreiheit, Unsicherheit, Unrecht
Es könnte Hilfe geben, aber es soll sie nicht geben, weil Europa das nicht will. Die Lager sollen Orte der Zermürbung und der Abschreckung sein und bleiben. Sogenannte Hilfe besteht derzeit unter anderem darin, dass Menschen, die eine griechische Insel erreichen, in die Boote zurückgedrängt und aufs offene Meer geschleppt werden, Richtung Türkei. So sieht die europäische Flüchtlingspolitik im Alltag aus.
Das ist die Praxis der Rechtslage, die in den europäischen Verträgen ganz anders beschrieben wird, nämlich so: „Die Union bildet einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, in dem die Grundrechte und die verschiedenen Rechtsordnungen und -traditionen der Mitgliedstaaten geachtet werden.“ So steht es im Artikel 67 Absatz 1 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union, so stand und steht es in den Verträgen von Maastricht, Amsterdam, Nizza und Lissabon.
Freiheit? Sicherheit? Recht? Gängige Praxis auf den griechischen Inseln und das Zukunftskonzept für europäische Flüchtlingslager an allen Außengrenzen ist Unfreiheit, Unsicherheit und Unrecht. Es gibt in der EU-Flüchtlingspolitik einen Lockdown der Menschlichkeit. Darin besteht die Neuausrichtung der Flüchtlingspolitik in Europa. Es ist dies der Pushback der europäischen Flüchtlingspolitik in die Rechtlosigkeit. Pontius Pilatus wusch sich die Hände in Unschuld. Europas Politiker waschen sich die Hände in dem Wasser, in dem Flüchtlinge ertrinken.
Wenn die Werte nichts mehr wert sind
Vor ein paar Jahren waren es vor allem Leute wie der damalige italienische Innenminister Matteo Salvini von der rechtsradikalen Lega Nord und der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán, die mit brutal-populistischer Offenheit sagten, worum es ihnen bei der Flüchtlingspolitik geht: um „Menschenopfer“ zur Abschreckung. Salvini ist heute stellvertretender Ministerpräsident im Kabinett von Rechtsaußen-Regierungschefin Giorgia Meloni; sie liegt auf der Linie der Flüchtlingsabschreckungspolitik von Salvini und Orbán, trägt diese nur etwas moderater vor; Meloni lässt Flüchtlinge nach Albanien schaffen und die Asylverfahren dort abwickeln.
Dergleichen Auslagerung gilt mittlerweile bei vielen von denen, die sich einst über Salvini und Orbán erregt haben, als Vorbild für ganz Europa – auch eine Auslagerung nach Afrika, nach Ruanda oder Uganda. Die Zeit bis zu ihrer Verbringung nach Afrika sollen die Flüchtlinge in Abschiebezentren absitzen. So propagieren es etwa lautstark die niederländische und die dänische Regierung. Der polnische Ministerpräsident Donald Tusk hat angekündigt, das Asylrecht komplett auszusetzen. Der deutsche Kanzler Olaf Scholz (SPD) will die für 2026 geplante neue EU-Hardcore-Asylpolitik vorziehen – und schon vorzeitig an den Außengrenzen große europäische Asyllager errichten lassen.
In den EU-Verträgen heißt es: Die EU „stellt sicher, dass Personen an den Binnengrenzen nicht kontrolliert werden, und entwickelt eine gemeinsame Politik in den Bereichen Asyl, Einwanderung und Kontrollen an den Außengrenzen, die sich auf die Solidarität der Mitgliedstaaten gründet und gegenüber Drittstaatsangehörigen angemessen ist“. Die gemeinsame Asylpolitik besteht in sich ständig steigernden abschreckenden Maßnahmen. Und von der Nichtkontrolle an den Binnengrenzen hat man sich verabschiedet, wie jeder feststellen kann, der in Europa unterwegs ist.
Vor bald dreißig Jahren, als am Bundesverfassungsgericht über das geänderte und eingeschränkte deutsche Asylgrundrecht verhandelt wurde, hat der damalige Bundesinnenminister von der CDU, es war Manfred Kanther, die Karlsruher Richterinnen und Richter eingewickelt mit dem Hinweis auf die bevorstehenden europäischen Lösungen. Es bat darum, den „europäischen Verantwortungszusammenhang“ nicht zu stören – und hinderte auf diese Weise das höchste Gericht daran, die Änderung des Asylgrundrechts für verfassungswidrig zu erklären. Jetzt erleben wir täglich, wie der europäische Verantwortungszusammenhang aussieht.
Der Lockdown der Menschlichkeit muss beendet werden. Europa lebt nicht nur vom Euro. Es lebt von seinen Werten. Wenn diese Werte nichts mehr wert sind, verliert Europa seinen Wert.