Es gibt den Niedergang in der Demokratie, es gibt ihn in der Kirche. Wird die Kirche ihn überleben – und wie? Gedanken zu den Missbrauchsskandalen.

Von Heribert Prant

Was die Missbrauchsskandale für die Katholische Kirche sind, das ist Trump für die amerikanische Demokratie. Beiden drohen Verfall, Niedergang und Untergang. Aber für die Demokratie gibt es keine Weissagung, wie es sie für die Kirche gibt. Diese Weissagung steht in zwei Meter hohen Buchstaben in der Kuppel des Petersdoms. Es ist dies das berühmte Zitat aus dem Matthäus-Evangelium: „Tu es Petrus …“. Auf Deutsch: „Du bist Petrus, und auf diesem Felsen werde ich meine Kirche bauen, und Dir gebe ich die Schlüssel des Himmelreiches.“ Diesem Jahrtausendwort folgt dann im Matthäus-Evangelium ein grandios zukunftsgewisser Satz über die Kirche: „Die Pforten der Hölle werden sie nicht überwältigen.“

Die Hölle – das sind heute die Missbrauchsskandale. Sie sind ein Großverbrechen im Fortsetzungszusammenhang. Sie sind ein Verrat an den Opfern, am Evangelium, an der eigenen Integrität. Wird die Kirche weiterleben? Verbrennt sie an diesen Skandalen? In Italien ist die Diözese Bozen-Brixen die erste Diözese des Landes, die einen Bericht zum sexuellen Missbrauch in der Katholischen Kirche in Auftrag gegeben hat. Soeben liegt der Bericht vor, und Bischof Ivo Muser hat „um Vergebung“ gebeten. Reicht das?

Die Kirche war und ist die Heimat der Täter. Die Kirche hat ihnen die heiligen Räume und die heiligen Szenerien zur Verfügung gestellt, in denen sie so geschützt agieren konnten und in denen die Opfer so ungeschützt waren. Die Amtskirche hat pädophile Priester einfach woandershin versetzt, sie hat die Fälle von sexueller Gewalt viele Jahre systematisch verschleiert. Weil das so ist, sind auch zahllose untadelige, hochengagierte Seelsorger und Erzieher unter Generalverdacht geraten. Das Misstrauen ist gewaltig. Zu spät hat die Kirche begonnen, die Schleier wegzureißen – gedrängt von den Opfern und den Medien. In der Kirche wird Klage geführt über den Zorn, die Wut und den Hass, der in diesem Drängen steckt.

Es gibt diesen Zorn, die Wut und den Hass. Es wäre ein Wunder, wenn es nicht so wäre

Ja, es gibt diesen Zorn, die Wut und auch den Hass; es wäre ein Wunder, wenn es nicht so wäre. Hässliches erzeugt Hass. Wer sich die Rolle der Hüterin der öffentlichen Moral zuschreibt, der muss sich genau anschauen lassen, wenn es um Unmoral und Verbrechen in den eigenen Reihen geht. Das zentrale Problem der Katholischen Kirche sei die „Unfähigkeit, die eigenen pathogenen Strukturen und die Folgen der klerikalen Vertuschungen zu erkennen, zu erörtern und daraus praktische Konsequenzen zu ziehen“, so hat das der vor einem Jahr verstorbene Religionssoziologe Franz-Xaver Kaufmann analysiert: Pädophilie sei das Risiko einer zwangszölibatären und monosexuellen Kirche, der in zweitausend Jahren zwar die Vertreibung der Frauen aus den Machtpositionen, aber nicht die Entsexualisierung des Menschen gelingen konnte. Der Münsteraner Kirchenhistoriker Hubert Wolf argumentiert ähnlich: Auf dem Fakultätstag der katholischen-theologischen Fakultät Wien im Jahr 2019 erkannte er einen klaren „Zusammenhang zwischen klerikal männerbündischem Kirchensystem, Macht, Missbrauch und Zölibat“.

„Die Pforten der Hölle werden sie, die Kirche, nicht überwältigen.“ Ist das ein göttliches Versprechen? Ein Orakel, eine Prophezeiung, ein Vaticinium?

In manchen Übersetzungen heißt es: „Die Pforten der Hölle sollen sie nicht überwältigen.“ Sollen! Sollen! Das ist fordernder, weil es ein Tun verlangt. Dieses Tun besteht in der fundamentalen Erneuerung der Kirche. Es gab und gibt die Hoffnung, die Missbrauchsskandale könnten die Kirche so durchrütteln und durchschütteln, dass am Ende Erkenntnisse stehen, die es ohne dieses globale Desaster nicht gegeben hätte. Eine solche Erkenntnis könnte sein: Das Pflichtzölibat, also die Pflicht zur Ehelosigkeit der Priester, sollte abgeschafft werden. Kirchenhistoriker Hubert Wolf sieht darin einen „Risikofaktor“ in Bezug auf sexuellen Missbrauch. Und bereits das Zweite Vatikanische Konzil (1962 bis 1965) habe festgehalten, dass der Zölibat „nicht vom Wesen des Priestertums selbst gefordert ist“. Die zweite, wohl noch wichtigere Erkenntnis: Die Ausgrenzung der Frauen muss beendet werden, die Gleichberechtigung muss auch bei geistlichen Ämtern Einzug halten. Aber solche Erkenntnisse werden abgeblockt.

Der Papst wird eher schmallippig, wenn es um fundamentale Reformen geht

Papst Franziskus hat soeben eine viel gelobte Autobiografie publiziert, „Hoffe“ heißt sie. Die Hoffnung darauf, dass sich dort solche Erkenntnisse finden, erfüllt sich nicht. Der Papst schildert sehr plastisch seine Kindheit, seine Jugend und sein Leben in Argentinien, er erklärt sehr eindringlich und überzeugend seinen Einsatz für Frieden und soziale Gerechtigkeit; er wird aber eher schmallippig, wenn es um die genannten fundamentalen Reformen geht. Er singt in seinem Buch zwar ein Loblied auf die Frauen und legt dar, dass es keine Gründe gäbe, „warum Frauen in der Kirche keine Führungsrolle übernehmen sollten“; er spricht vom „marianischen Prinzip“, das in der Kirche wichtiger sei als das „petrianische“: „Maria ist bedeutsamer als Petrus.“ Das ist ein gewichtiges Wort von einem, der der 266te Nachfolger des Heiligen Petrus und Oberhaupt von 1,4 Milliarden Katholiken ist. Aber aus dem gewichtigen Wort folgt leider – fast nichts.

Franziskus verweist darauf, dass er ja Nonnen ins vatikanische Topmanagement befördere; und begründet das so: „Was der Heilige Geist uns beschert, sollten wir nicht aufhalten.“ Aber die Vorstellung, dass Frauen auch priesterliche Ämter innehaben könnten und sollten – diese Vorstellung schiebt er ganz weit weg, da wird der liebenswürdige Petrus-Nachfolger sehr blässlich. Er schwurbelt von der „Mystik der Frauen“, die größer sei als „die eines Dieners des Herrn“. Diese Mystik der Frauen soll aber offenbar weiterhin durch die Ungleichberechtigung der Frau gepflegt werden. Emanzipation ist und bleibt in der größten Religionsgemeinschaft der Welt ein Fremdwort.

Das ist schade. Wie viele Konklaven wird es noch geben müssen, bis sich das ändert?


Newsletter-Teaser