Pazifismus und Antimilitarismus adieu: Die Partei hat sich von ihren alten Wurzeln losgeschnitten. Was verliert sie dabei?

Von Heribert Prantl

„Die Bundesrepublik erlebt ein grünes Wunder. Die Grünen stehen so gut da wie nie. CDU/CSU und SPD schauen so neidisch auf die Grünen, wie in der Bibel der Kain auf seinen Bruder Abel geschaut hat – als der Rauch von dessen Opfergabe geradeaus zum Himmel stieg, der Rauch des Kain’schen Opfers aber schwer am Boden herumkroch.

Diese grüne Partei kann sich fast alles leisten, was sich die anderen Parteien nicht leisten können: Die Grünen können konsequent inkonsequent sein, ohne in der allgemeinen Gunst zu sinken; sie können ihre Ideale für die Macht opfern; es scheint ihnen nicht zu schaden. Sie werden vom Zeitgeist getragen. Das ist nicht unverdient, denn die Grünen haben ihn mitgeschaffen. Sie ernten die Früchte der wilden und idealistischen Jahre, in denen sie als ‚Anti-Parteien-Partei‘ geackert und gesät haben …“

Das klingt wie ein aktueller Kommentar, das klingt wie ein Kommentar zu dem schier unglaublichen Erfolg der Grünen soeben bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen: Dort haben sie ihr Wahlergebnis im Vergleich zur letzten Landtagswahl verdreifacht! Und die Umfragen für die Grünen gehen auch bundesweit durch die Decke: „Die Bundesrepublik erlebt ein grünes Wunder ….“.

Der politische Betrieb ähnelt einer Ziehharmonika

Es ist dies aber kein aktueller Kommentar. Es handelt sich bei der Eingangsanalyse, die ich in den ersten Absätzen dieses Newsletters wiedergebe, um einen Leitartikel, den ich schon vor 12 Jahren geschrieben habe. Er hatte den Titel: „Die Grünen als neue CDU“. Das zeigt: Die Wunder sind nicht so neu, wie man glauben könnte. Es gab sie schon einmal. Die Wunder kommen – und die Wunder gehen. Die Euphorie des grünen Spitzenpersonals sollte sich deshalb in Grenzen halten. Der politische Betrieb ähnelt einer Ziehharmonika: Da wird der Balg immer wieder zusammengequetscht und dann wieder auseinandergezogen.

Also alles so wie immer? Nein. Es ist etwas passiert, was in seinen Auswirkungen noch nicht absehbar ist. Fast einmütig werben die Grünen für die Waffenlieferungen in die Ukraine. In der grünen Bundestagsfraktion gab es genau zwei Enthaltungen beim Beschluss, schweres Kriegsgerät zu liefern und aufzurüsten. Zwei Stimmen von 118! Antje Vollmer, die ehemalige grüne Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags, erklärte in einem Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung, sie erkenne ihre grüne Partei in der Friedensfrage fast nicht wieder: „Damit wird für mich die grüne Seele verraten. Ohne die pazifistischen Wurzeln wären wir nie in den Bundestag gekommen.“ Nur „in der Ökologiefrage“ sei die Partei noch in der Spur.

Der lange Abschied vom Pazifismus

Aber der Menschenrechts-Bellizismus der Grünen ist nicht vom Himmel gefallen, er hat eine lange Geschichte; sie reicht zurück in die Zeit, in der die heute 78-jährige Antje Vollmer eine wichtige, mitbestimmende Figur in der Partei war. Damals hat Joschka Fischer als grüner Außenminister in der Regierung von Gerhard Schröder damit begonnen, die pazifistischen Wurzeln der Partei zu kappen. Die rot-grüne Regierung führte Deutschland damals, zum ersten Mal nach dem Zweiten Weltkrieg, wieder in einen Krieg, in den Jugoslawien-Krieg, den sie aber nicht Krieg, sondern „humanitäre Intervention“ nannte; es war Krieg – und nichts zeigte das deutlicher als die grausamen Irrtümer der Nato-Bomber, die nicht nur den militärischen Feind, sondern die Flüchtlinge aus dem Kosovo beschossen haben, die man vor diesem Feind ja eigentlich beschützen wollte. Solche Irrtümer sind Kennzeichen und bitterer Bestandteil von Kriegen.

Mit Inbrunst und moralischer Leidenschaft

Es war Krieg, vom 24. März bis 10. Juni 1999 führte die Nato einen Luftkrieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien. Mit Inbrunst und moralischer Leidenschaft haben damals der grüne Außenminister Joschka Fischer und der SPD-Verteidigungsminister Rudolf Scharping die Bomberei verteidigt Sie haben, um das Nato-Bombardement zu rechtfertigen, die Vertreibungspolitik des Slobodan Milošević mit Auschwitz verglichen. Es war, als müssten sie so reden, um die eigenen Zweifel an der Geeignetheit der Mittel zu beruhigen. Aber das Menschenrechtspathos wurde im Verlauf des Kriegswochen schal, es hielt den Bildern des Leids, das die Nato-Raketen anrichteten, nicht stand: Bildern von Kindern, die von Nato-Splitterbomben zerrissen wurden, Bildern von zerstörten Sanatorien. Die Unruhe in der SPD und in der grünen Partei wuchs. Beschwörend warben Kanzler Schröder und Außenminister Fischer in ihren Fraktionen, noch ein wenig zu warten. Das Einlenken, die Kapitulation von Jugoslawiens Staatschef Milošević kam überraschend und gerade noch rechtzeitig, bevor die Lage innenpolitisch außer Kontrolle geriet.

Der Pazifismus, das lernten die Pazifisten damals, im Frühjahr 1999, war auch in der grünen Partei nicht mehr mehrheitsfähig – schon damals war das so. Aber damals wurde erbittert gestritten. Der Höhepunkt des Streits war der Parteitag in Bielefeld, der von wütenden Demonstranten eingekesselt wurde. Die grünen Delegierten damals haben den Kriegsparteitag durchgestanden – manche stolz, manchen zweifelnd, manche verletzt, manche weinend, mit sich und der Welt ringend, aber im Gefühl, dass man sich der Konfrontation nicht entziehen darf: nicht der Konfrontation mit dem Krieg in Jugoslawien und nicht der Konfrontation mit dem Vorwurf, man gehöre, als Teil der rot-grünen Koalition, zu den „Kriegshetzern“.

Ein ernsthaftes Ringen

Es war ein dramatischer Parteitag. Aber das Drama spielte sich nicht nur draußen vor der Halle ab, wo sich Unmut und auch Pöbelei auf die Delegierten ergossen. Das Drama war nicht nur der Farbbeutel gegen Joschka Fischer, der ihn verletzte und dessen Spuren er nach erstem Erschrecken trug wie den Orden Pour le Mérite. Farbbeutel, Trillerpfeifen und Sprechchöre: Das waren Attacken von außen – ein lauter, vorlauter und anmaßender Protest, wie ihn die Grünen gut kannten. Weil sie ihn in früheren Tagen gern selbst geübt hatten, spürten sie, dass sie ihn ertragen mussten. Wie sie das ertragen haben, das war das eigentliche Drama dieses Parteitags: Die einen litten, weil sie sich eigentlich in der Ablehnung des Kriegs mit den Demonstranten einig wussten; die anderen, weil sie sich von ihnen beleidigt und verhöhnt fühlten. Es war Mut, sich solcher Demütigung zu stellen. Genau deswegen kam es zu einem disziplinierten, konzentrierten und ernsthaften Ringen darüber, wie man aus dem Krieg in Jugoslawien wieder herauskommt.

Von diesem Ringen ist heute, im Ukraine-Krieg, nichts, gar nichts zu spüren. Es gibt keinen Streit mehr. Zwar betonen die Grünen immer wieder, sie hätten sich die Entscheidung für die Waffenlieferungen sehr schwer gemacht; aber man hört und sieht davon nichts. „Es wäre ein Dienst an der Demokratie“, meint Antje Vollmer, den Streit sichtbar zu machen. Aber: Wenn es ihn nicht gibt, kann man ihn nicht sichtbar machen. Es gibt die Protagonisten der Friedensbewegung nicht mehr – Leute wie einst Petra Kelly und Joseph Beuys, die an der Wiege der Grünen standen. Es gibt keinen Christian Ströbele mehr, der sich seinerzeit mit Joschka Fischer erbitterte Debatten lieferte; er unterlag ihm zwar bei den Abstimmungen, manchmal auch nur sehr knapp, aber er hielt die Fahne der anderen Meinung hoch. Die grüne Partei ist in der Friedensfrage monochrom und monoton geworden.

Die politische Kinderlosigkeit von Christian Ströbele und Antje Vollmer

Im SZ-Gespräch mit der 29-jährigen grünen Bundestagsabgeordneten Jamila Schäfer, die für das wirbt, was Kritiker „Menschenrechtsbellizismus“ nennen, meinte Antje Vollmer: „Ihr seid alle Joschka Fischers Kinder, Jamila“. Das ist nun nicht per se ehrenrührig. Man fragt sich freilich, wo denn die Kinder von Christian Ströbele und Antje Vollmer eigentlich sind? Gibt es sie nicht – und wenn ja, warum nicht? Oder gibt es sie – aber nicht mehr in der grünen Partei, weil die sich von der Friedensbewegung komplett abgenabelt hat?

Das begann 1999 in Bielefeld, das setzte sich dann zweieinhalb Jahre später fort beim Parteitag in Rostock, der ein bisschen Krieg als Mittel der Politik erlaubte. Dieser grüne Parteitags-Beschluss veränderte die grüne Partei, nicht nur ein bisschen. Er schob die Linken in der Partei an den Rand, beendete die spannungsreiche Koexistenz von grünen Realisten, grünen Idealisten und grünen Utopisten. Der Parteitag im November war das Ende des Nebeneinanders von Pax Americana und Pax Christi in der grünen Partei.

Was verlieren die Grünen?

Der lange Abschied vom Pazifismus wird nun in der Ukraine-Politik des Jahres 2022 vollendet. Der Antimilitarismus, der lange ein wichtiges Bindemittel der grünen Partei war, hat dort keine Heimat mehr. Das ist für die Grünen ähnlich bedeutsam wie es für CDU und CSU wäre, wenn sie das „C“ aus ihrem Namen strichen. Die Union verlöre dann nicht nur einen Buchstaben, sie verlöre ihr Fundament.

Was verlieren die Grünen? Vielleicht verlieren sie sich selbst – finden sich als ökologische CDU wieder und verkörpern einen neuen Typus von Volkspartei.


Newsletter-Teaser

Spread the word. Share this post!