Der Friedensnobelpreisträger Yunus ist seit knapp fünf Monaten Chef der Übergangsregierung in Bangladesch. Schriftlich hat er Fragen zur Zukunft seines Landes beantwortet.

 

Von Heribert Prant

Bangladesch ist, gemessen an der Bevölkerungszahl, das achtgrößte Land der Erde: halb so groß wie die USA, größer als Russland. In Bangladesch leben doppelt so viele Menschen wie in Deutschland auf einer Fläche, die nur zweimal so groß ist wie Bayern. Seit dem erfolgreichen Volksaufstand gegen die despotische und korrupte Regierung von Sheik Hasina im Juli/August 2024, der sich aus brutal niedergeschlagenen Studentenprotesten heraus entwickelt hatte, wird das Land regiert vom 84-jährigen Friedensnobelpreisträger Muhammad Yunus.

Ich habe Yunus im Oktober 2022 bei einer Preisverleihung in der hessischen Stadt Bensheim kennengelernt und hatte jetzt Gelegenheit, ihn zu den ersten fünf Monaten seiner Regierung zu befragen. Er hat meine Fragen schriftlich beantwortet und Neuwahlen bis spätestens Mitte nächsten Jahres angekündigt.

Der „Economist“ hat Bangladesch gerade zum „Land des Jahres“ gekürt. Jedes Jahr vergibt das Wirtschaftsmagazin diesen Titel an ein Land, das in den vergangenen zwölf Monaten besonders große Fortschritte gemacht hat. Was genau hat sich für die Menschen in Bangladesch im Jahr 2024 verbessert?

Das Wichtigste zuerst: Nach sechzehn Jahren haben die Menschen in Bangladesch ihre Stimme zurückerhalten. Sie können ihre Ansichten und Gefühle wieder frei äußern. Zeitungen können schreiben, was sie wollen. Einschränkungen und Bedrohungen der Rede-, der Meinungs- und Pressefreiheit sind aufgehoben. Während der 16 Jahre, in denen Sheik Hasina an der Macht war, war die Presse mundtot gemacht, waren Zeitungen und Fernsehsender geschlossen worden, wenn und weil sie über Korruption berichtet hatten. Wir haben die Sicherheitsbehörden sowie zivile und militärische Stellen angewiesen, sich nicht mehr in die Arbeit von Journalisten einzumischen. Die Presse kann nun völlig frei veröffentlichen, was sie möchte.

Im August noch sah sich die Interimsregierung mit einer Wirtschaft konfrontiert, die vor dem Bankrott stand. Das Bankensystem lag am Boden. Oligarchen hatten riesige Kredite erhalten, die sie in andere Länder verschieben konnten. Der Anteil der faulen Kredite lag bei 70 Prozent. Die Währungsreserven befanden sich auf einem Tiefstand. Unbezahlte internationale Rechnungen stapelten sich. Nun funktioniert das Bankensystem wieder, ausländische Kredite werden zurückgezahlt, die Währungsreserven steigen, die Justiz sorgt endlich für Gerechtigkeit! Bangladesch ist zu einem Land der Hoffnung und des Fortschritts geworden.

Sie sind 84 Jahre alt, Friedensnobelpreisträger von 2006 und sollen nun als Regierungschef für inneren Frieden sorgen. Wie schwierig ist es, im Regierungsalltag solch hohen Erwartungen gerecht zu werden?

Die Erwartungen sind gigantisch. Die Menschen wollen, dass alle Probleme noch heute gelöst werden. Wir geben unser Bestes, und die Dinge ändern sich zum Besseren. Wir bereiten uns darauf vor, in diesem oder Mitte des nächsten Jahres Wahlen abzuhalten – sobald wir unsere Institutionen so reformiert haben, dass in Zukunft kein weiteres faschistisches Regime mehr entstehen kann.

Nie hatte ich das Gefühl, dass mein Alter mich einschränkt. In den letzten fünf Monaten habe ich mir kaum eine Pause gegönnt. Selbst am Wochenende habe ich gearbeitet und Sitzungen abgehalten. Unsere Bemühungen haben das Land vor dem Untergang bewahrt.

Sie sind ein Mann mit Visionen – kommen Sie diesen Visionen näher, wenn Sie regieren? Oder rücken diese in die Ferne? Verschwinden sie im Nebel?

Ich kann und will mich nicht von meiner Vision verabschieden. Wie soll man ein Land mit 171 Millionen Einwohnern gut regieren, wenn man keine Visionen hat? Unsere Vision hat Frieden und Stabilität gebracht. Sie hat zum Wiederaufbau der Wirtschaft beigetragen. Wir haben beispiellose Anstrengungen unternommen, um unsere Institutionen zu reformieren. Ich versuche, meine Ideen in Regierungsprogramme einzubringen. Dabei richten wir unser Augenmerk auf die Jugend. Schließlich wurde der Wandel in Bangladesch von Jugendlichen herbeigeführt. Ich versuche, den Unternehmergeist von Jungen und Mädchen zu fördern. Ich versuche, soziales Unternehmertum zu fördern.

Mein Ziel ist es, eine Welt der drei Nullen zu schaffen: null Vermögenskonzentration, null Netto-CO₂-Emissionen und null Arbeitslosigkeit. Diese Konzepte sind in Regierungskreisen noch sehr neu, und ich bringe sie zur Sprache, um die politischen Entscheidungsträger darauf aufmerksam zu machen. Im Moment veranstalten wir ein landesweites Jugendfestival unter dem Motto: „Lasst uns das Land verändern, lasst uns die Welt verändern“.

Die politischen Institutionen in Bangladesch sind nach Jahrzehnten autokratischer Führung „zerstört“, wie Sie in einem früheren Interview gesagt haben. Was gibt Ihnen Kraft und Zuversicht in Ihrem Amt?

Es ist die unbändige Energie der Menschen, ihre Widerstandsfähigkeit angesichts der Brutalität und Korruption der Diktatur, und das Opfer der Märtyrer und Leidtragenden des Volksaufstands im Juli und August, die mir Kraft geben. Schüler im Alter von nur zwölf Jahren haben bei diesem Aufstand ihr Leben verloren. Es gab Kinder, die ihrer Mutter eine Nachricht hinterlassen haben, in der sie um Vergebung dafür baten, dass sie das Haus verlassen hatten, obwohl ihre Mutter sie mehrfach davor gewarnt hatte, sich den Demonstrationen anzuschließen. Falls sie nicht zurückkämen, sollte die Mutter bitte stolz auf sie sein, dass sie nicht zu Hause geblieben sind, während ihre Freunde ihr Leben für die Nation geopfert hätten. Ihr selbstloser Einsatz inspiriert mich. Diese Kinder sind meine leuchtenden Vorbilder.

Was sind derzeit Ihre größten Hindernisse beim Regieren? Korruption? Fundamentalismus? Fanatismus?

Die beispiellose Korruption in der Zeit der Diktatur hat alle Institutionen in Bangladesch zerstört. Wir ringen mit aller Kraft um den Wiederaufbau dieser Institutionen. Es ist ein harter Kampf. Die Banken waren ausgeplündert. Laut einem von unabhängigen Experten erstellten Report wurden während der 16-jährigen Regierungszeit von Sheikh Hasina jedes Jahr mindestens 16 Milliarden Dollar ins Ausland geschafft. Etwa 40 Prozent des staatlichen Entwicklungsbudgets wurden auf diese Weise verschlungen.

Bangladesch hat ein gewisses Extremismusproblem. Es ist ein Randproblem, das nicht besonders augenfällig ist. Die Jugend hat die Nation zu einer dezidiert säkularen Vision gedrängt.

Sie führen das Land bis zu den Neuwahlen. Was können Sie tun, um sicherzustellen, dass die Reformen weitergehen? Was können Sie tun, um zu verhindern, dass sich wieder ein autokratisches Regime etabliert?

Ich denke, dass die von uns eingeleiteten Reformen ein neues autokratisches Regime verhindern werden. Der Sinn der Reformen besteht darin, dass keine Regierung Wahlen manipulieren kann, um an der Macht zu bleiben. Die Reformen stärken unsere Institutionen und schaffen ein Gleichgewicht in den Machtstrukturen, das lange Zeit fehlte. Für politische Parteien wird es äußerst schwierig sein, unsere Reformen rückgängig zu machen und eine neue Diktatur zu errichten.

Was erwartet Bangladesch von der EU, was erwartet Ihr Land von Deutschland?

Während der UN-Generalversammlung im September 2024 habe ich die EU-Präsidentin Ursula von der Leyen getroffen. Die EU hilft uns dabei, die Handels- und Entwicklungszusammenarbeit auszubauen. Es geht um die Neuausrichtung unseres Landes: Wir wollen ein demokratisches, wirtschaftlich erfolgreiches, fortschrittliches und inklusives Bangladesch aufbauen. Dabei betrachten wir die EU und Deutschland als unsere wichtigsten Partner.


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