Vor 90 Jahren starb Ellen Ammann, eine tiefreligiöse soziale Reformerin und vergessene Widerständlerin gegen Hitler. Sie war die Clara Zetkin des Katholizismus.

Von Heribert Prantl

Die Frau war ungewöhnlich, sehr ungewöhnlich; und sie hatte ungewöhnliche Vornamen. Sie hieß Ellen Aurora Elisabeth Morgenröte, ihr Familienname war Ammann, geborene Sundström. Der Vornamen wegen könnte man die 1870 geborene Frau glatt für eine Märchentante halten. Das war sie aber nicht. Sie war eine energiegeladene, resolute und zupackende schwedisch-bayerische Politikerin, eine Frauenrechtlerin, sie hatte sechs Kinder, war eine angesehene Landtagsabgeordnete, gehörte 1919 zu den ersten Frauen, die ins Parlament gewählt wurde. Sie war die Gründerin der Münchner Bahnhofsmission, eine Streetworkerin der ersten Stunde, sie war Wegbereiterin der professionellen Sozialarbeit. Sie kümmerte sich um die armen Mädchen vom Land, die zu Tausenden in die Stadt strömten, um hier Arbeit und Glück zu finden, kämpfte gegen die Menschenhändler, die junge Frauen für Hungerlöhne an die Fabriken verkaufen und gegen die Zuhälterbanden, die sie in die Bordelle verschleppten.

Widerstand gegen Hitler und Ludendorff

Und sie war energisch im Widerstand gegen Hitler. Es gelang ihr 1923 zwar nicht, Hitler ausweisen zu lassen. Aber nicht zuletzt ihr ist es zu verdanken, dass am 9. November 1923 der Hitlerputsch in München niedergeschlagen werden konnte. Als sie am Vorabend vom Putsch erfuhr, trommelte sie den Widerstand zusammen, versammelte die nicht in die Hitlerei involvierten Mitglieder der bayerischen Staatsregierung in ihrer Frauenschule, drängte sie zu der berühmt gewordenen Proklamation „Die verfassungsgemäße Regierung besteht weiter“, in der der „Putsch von Hitler und Ludendorff“ als „ein Staatsverbrechen“ bezeichnet wurde, sie intervenierte bei Generalstaatskommissar Gustav von Kahr und erreichte, dass Reichswehrtruppen nach München beordert wurden. Der damalige Kultusminister und stellvertretende Ministerpräsident Franz Matt bekundete ihr später seinen Respekt so: „Die Kollegin Ammann hat mehr Mut bewiesen als manche Herren in Männerhosen“.

Und trotzdem: Ellen Ammann gehört zu den von der Geschichte vergessenen Frauen. Vor neunzig Jahren, am 23. November 1932 ist sie, unmittelbar nach einer kämpferischen Landtags-Rede über die Situation kinderreicher Familien, im Alter von 62 Jahren an einem Schlaganfall gestorben. Ammann ist noch viel vergessener als andere Frauenrechtlerinnen ihrer Zeit, vergessener als etwa die Pazifistinnen Anita Augspurg und Lida Gustava Heymann. Warum? Ellen Ammann war keine Sozialistin, wie die meisten anderen Frauenrechtlerinnen; sie war nicht Proletarierin, sie war keine von den Suffragetten, die mit Widerstand bis hin zum Hungerstreik für das Frauenwahlrecht, also für „Suffrage“ kämpften. Sie schrieb keine Kampfschriften. Sie war so anders. Sie war im Jahr 1918 Mitgründerin der konservativen Bayerischen Volkspartei, die weiß-blaue Regierungspartei war in der Weimarer Republik, also eine Vorgängerin der CSU von heute.

Sie zog alle Register im katholischen Milieu

Ellen Ammann war also ganz weit weg von der Szene, in der und für die der sozialdemokratische Arbeiterkaiser August Bebel sein berühmtes Buch „Die Frau und der Sozialismus“ geschrieben hatte. Sie war weit weg von feministischen Revolutionärinnen und trotzdem: Sie war eine pragmatische soziale Streiterin. Sie arbeitete in einem Milieu, das glaubte, dass das Frauenstimmrecht für eine „frommgläubige Frau“ einen großen Schaden bedeute – weil sie herausgerissen „aus der Stille des Gebetskämmerleins und den beschaulichen Betrachtungsstunden vor dem Tabernakel und in den wilden Wirbel der Politik hineingeschleudert“ würde, wie es in einer zeitgenössischen Schrift hieß. In diesem Milieu zog Ellen Ammann alle Register, die sie erreichen konnte. Sie erreichte viel. Vielleicht weil sie wusste, dass sie, um so viel zu erreichen, eine konservative Partei als Basis und die Kirche als Begleitschutz brauchte. Sie war dem kirchlichen Denken und den religiösen Wertvorstellungen verhaftet, war aber nicht verbohrt.

Aurora Elisabeth Morgenröte Ammann war eine tiefgläubige, konvertierte Katholikin und eine kampfeslustig-pragmatische Chefin im mächtigen Katholischen Frauenbund. Sie machte sich daran, diesen Verein zu politisieren; sie wollte die katholischen Frauen „für ihre Aufgaben im Staate rüsten“. Und das tat sie auch, unter anderem mit der Gründung einer Frauenschule (die heute Katholische Stiftungsfachhochschule in München), in der sie selbst das Fach „Frauenfrage und Frauenbewegung“ unterrichtete.

War Ammann die erste katholische Priesterin?

Sie kam aus einer anderen Welt. Sie wurde 1870 in einer bürgerlichen, weltoffenen Familie geboren, wurde evangelisch getauft und katholisch erzogen, ihr Vater war Wissenschaftler, Ornithologe, die Mutter war Journalistin. Ellen Ammann machte Abitur, studierte Heilgymnastik, also die frühe Physiotherapie; sie heiratete den Orthopäden Ottmar Ammann aus München, folgte ihm nach Bayern, half ihm beim Auf- und Ausbau seiner Klinik. Sie zog sechs Kinder groß, engagierte sich sozialkaritativ und holte sich die Kraft im Glauben. Sie wurde inspiriert vom Bibelwissenschaftler Michael Faulhaber, Professor für alttestamentliche Exegese und biblische Theologie an der katholisch-theologischen Fakultät der Universität Straßburg, dem späteren Münchner Bischof und Kardinal, der 1913 vom Prinzregenten Luitpold zu „von Faulhaber“ geadelt wurde.

Gefördert und gesegnet von Kardinal Faulhaber

Faulhaber begleitete Ellen Ammans Sozialarbeit sehr wohlwollend. An der Spitze seines Domkapitels nahm er denn auch 1932 an Ellen Ammanns Beerdigung teil. In seinem Kondolenzschreiben an den Ehemann, den Hofrat Ammann, bezeichnete er die Verstorbene als „treue Diakonin“. Das war nicht einfach so aus Beileid dahingeschrieben – das war und ist eine kirchliche Sensation. Die Diakonweihe bedeutet nämlich die Aufnahme in den Klerikerstand, sie ist die erste Stufe der Ordination. Ordensfrauen, Nonnen also, gehören in der römisch-katholischen Kirche nicht zu den Klerikern, Pastoralreferentinnen und Pastoralreferenten auch nicht. Diakone können in der römisch-katholischen Kirche bis heute nur Männer sein, seit 1968 auch verheiratete Männer. Frauen, verheiratete Frauen als Diakoninnen gar, sind dem Vatikan ein Gräuel – wegen dieses Ansinnens des deutschen Katholizismus agitiert der Vatikan gegen den synodalen Weg in Deutschland. Ellen Ammann war also, wenn man es zuspitzt, die erste Priesterin, zumindest Priesteranwärterin, in der römisch-katholischen Kirche.

Die Magd als Feministin

Amman hatte 1919 einen weltlichen Frauenorden gegründet, eine kleine „heilige Schar“ von verheirateten Frauen, beraten und begleitet von Faulhaber. Vor ihm hatte sie gemeinsam mit sechs Frauen am 10. Oktober 1919 ihre geistlichen Gelübde abgelegt. Die Frauen nannten sich „Vereinigung katholischer Diakoninnen“, mehr als 160 Mitglieder hatte die Gemeinschaft nie. 1952 musste sie sich aber auf römische Weisung hin umbenennen in „Ancillae Sanctae Ecclesiae“ – also in „Mägde der heiligen Kirche.“ Mägde? Ellen Ammann wäre, hätte sie noch gelebt, gegen diese Racheaktion des vatikanischen Patriarchats Sturm gelaufen. Sie wäre heute womöglich die Anführerin von Maria 2.0.


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