Dem Abschied der Partei vom Pazifismus folgt nun die Abkehr vom Flüchtlingsschutz. Was kommt als Nächstes? Der Rückzug aus einer konsequenten Klimapolitik?

Von Heribert Prantl

Es ist vierzig Jahre her. Damals sperrte sich die Politik der Regierung Kohl gegen jeden Versuch, Einwanderung mittels eines Einwanderungsgesetzes gut und klar zu regeln. Das Asyl blieb deshalb für alle Menschen, die nicht EU-Bürger waren, die einzige Tür nach Deutschland; vor und hinter dieser Tür stauten sich immer mehr Migranten. Es begann die Zeit der furchtbaren Ausschreitungen gegen Flüchtlinge. Die politische Reaktion darauf? Die alte große Tür wurde vor dreißig Jahren per Grundgesetzänderung durch eine neue kleine Tür ersetzt. Der alte Asylartikel 16 Absatz 2 Grundgesetz wurde abgeschafft und durch einen neuen Artikel 16 a ersetzt – unter Mitwirkung von CDU/CSU, SPD und FDP. Das war vor dreißig Jahren. Nur die Grünen waren dagegen.

Die Geschichte, die zum damals neu geschaffenen Artikel 16 a des Grundgesetzes geführt hat, ist die Geschichte des größten und des folgenschwersten politischen Versagens in der Geschichte der Bundesrepublik. Deutschland ist bei dem wohl anspruchsvollsten Satz des Grundgesetzes gescheitert: „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.“ Wo zweieinhalb Jahrzehnte lang ein hehres Ideal stand, ein zuverlässiger „Leuchtturm im Hafen der Verfassung“, wie Politiker in schönen Reden sagten, stand schon zu Beginn der neunziger Jahre ein getretenes, ein geschundenes Grundrecht. Immer neue, immer neue „flankierende“ Maßnahmen wurden gefunden, die das Fundament des Grundrechts zerstörten.

Zuerst war es nur die CSU, dann die CDU, schließlich waren es auch FDP und SPD, die das Asylrecht sturmreif schossen. An den Geschützen standen die, deren politische Väter den Leuchtturm gebaut hatten. Nur die Grünen waren dagegen. Sie verteidigten den Leuchtturm. Vergeblich.

Sie gingen über die Forderung nach einer kompromisslosen Beibehaltung des Asylrechts hinaus, das sie als Nagelprobe für die demokratischen und menschenrechtlichen Zustände in der Bundesrepublik betrachteten. Sie forderten ein allgemeines Bleiberecht für alle Einwanderer und argumentierten dabei, dass die Wirtschaftspolitik der entwickelten Länder vom Kolonialismus bis in die Gegenwart für die wirtschaftliche Misere in den Entwicklungsländern verantwortlich sei – und leiteten daraus eine Verantwortung für die Armutsflüchtlinge aus diesen Ländern ab. Der bayerische Ministerpräsident Max Streibl (CSU) bezeichnete die Grünen als „die wahren Hetzer“ in der Asyldebatte und sprach in Anspielung auf das Konzept der multikulturellen Gesellschaft von einer „multikriminellen Gesellschaft“.

Das neue Asylrecht, beschlossen im Bundestag am 26. Mai 1993, trat am 1. Juli 1993 in Kraft – gegen die Stimmen der Grünen: Alle Nachbarstaaten Deutschlands wurden zu sicheren Drittstaaten erklärt, Deutschland umgab sich also mit einem Cordon Sanitaire. Wer durch diese Nachbarstaaten nach Deutschland einreist, der gilt seitdem nicht mehr als politisch Verfolgter. Er wird, das war die Idee des neuen Asylrechts, ohne weitere Prüfung an der Grenze zurückgewiesen. Deutschland wälzte die Flüchtlingsprobleme auf die Nachbarländer ab.

Das funktionierte einige Zeit lang, bis die Nachbarländer, die Staaten an den Außengrenzen also, dabei nicht mehr mitmachten und die Flüchtlinge möglichst nach Deutschland weiterschickten. Seitdem gibt es das gemeinsame Bemühen der europäischen Staaten, Flüchtlinge möglichst schnell wieder loszuwerden. Der Schutz von Flüchtlingen ist kein gemeinsames Thema, gemeinsames Thema ist nur Ausweisung und Abschiebung.

Jeder Staat wäscht seine Hände in Unschuld. Jeder schiebt die Flüchtlinge einfach weiter in den nächsten Staat. Jedem europäischen Staat geht es vor allem darum, sich möglichst schnell für unzuständig zu erklären. Überall in Europa heißt es: Asyl ja, aber nicht bei uns. Die Grünen haben das, seitdem es sie gibt, kritisiert und bekämpft. Sie haben für Humanität geworben. Diese Phase geht jetzt zu Ende.

Da fallen Späne

Immer mehr Grüne reden jetzt so, wie die anderen auch reden. Die EU-Projekte zur Abschottung Europas, die EU-Pläne, die an den Außengrenzen Flüchtlingslager, sogenannte Hotspots, errichten wollen, an denen kein Flüchtling vorbeikommt, stoßen auf immer mehr grüne Zustimmung. Es gibt immer mehr Verständnis für eine Asylpolitik, die nach dem Motto gemacht wird: „Wo gehobelt wird, da fallen Späne.“ Menschen, Flüchtlinge, Flüchtlingsfamilien sind keine Späne.

Es gibt immer mehr grünes Verständnis dafür, dass über Menschen mit juristischen Fiktionen entschieden wird; zu den juristischen Fiktionen gehörte und gehört das Modell der angeblich sicheren Herkunftsstaaten und der angeblich sicheren Drittstaaten. Das deutsche Flüchtlingsabwehrmodell von 1993 soll jetzt, im Jahr 2023, europäisiert werden. Es ist das Modell, das die Grünen damals so vehement abgelehnt haben. Jetzt sieht es so aus, als würden sie es mittragen.

Sie werden dann so reden, wie damals, vor dreißig Jahren, die Protagonisten der anderen Parteien geredet haben – damals, im Bundestag, am 26. Mai 1993; man muss das Bundestagsprotokoll von damals nachlesen und stellt fest: Die Sitzung war eine Orgie der Verharmlosung und Beschönigung. „Wir erhalten das Individualrecht auf Asyl“, garantierte Hans-Ulrich Klose von der SPD. „Wir beginnen, ein europäisches Asylrecht zu schaffen“, versprach Hermann Otto Solms von der FDP. „Wir legen den Schlepperbanden das Handwerk“, verkündete Wolfgang Schäuble von der CDU. Und „keinem politisch Verfolgten droht Abschiebung in die Gefahr“, versicherte der damalige Bundesinnenminister Rudolf Seiters. Man kann gespannt sein, wer von den Grünen nun, dreißig Jahre später, welche von diesen Rollen übernimmt.

Deutschland erlebt die Entfärbung der Grünen in drei Akten. Es ist ein Trauerspiel. Der erste Akt handelte von der Verabschiedung des Pazifismus und seiner Umwandlung in einen Militarismus. Der zweite Akt handelt von der Abkehr vom Flüchtlingsschutz. Wovon wird der dritte Akt handeln? Wohl vom Rückzug aus einer kraftvollen Klimapolitik. Was bleibt dann von den Grünen? Eine entgrünte Partei.

 


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