Wenn kein Parteiverbot beantragt und keine Grundrechtsverwirkung gefordert wird, bewertet das die AfD als Bestätigung dafür, dass bei ihr nichts zu beanstanden ist.

Von Heribert Prantl

Vor hundert Jahren begann in Deutschland die Hitlerei. Vor hundert Jahren wurde der Hitlerputsch, der sogenannte Marsch zur Feldherrnhalle in München, zurückgeschlagen; nur fürs Erste leider. Zehn Jahre später waren die Nationalsozialisten an der Macht und haben der ersten deutschen Demokratie, den Grundrechten der Weimarer Verfassung und den Demokratinnen und Demokraten den Garaus gemacht. Am vergangenen Donnerstag, zum hundertsten Jahrestag des Hitlerputsches, haben Politik und Zivilgesellschaft der Ereignisse gedacht und versucht, aus dem Desaster von damals Lehren zu ziehen für heute.

Die Lehren lauten: Grundrechte sind nicht dafür da, um mit ihnen die Grundrechte zu bekämpfen. Und die Parlamente sind nicht dafür da, um von dort aus den Sturz der rechtsstaatlichen Grundordnung zu organisieren. Es kann und darf nicht sein, dass, hundert Jahre nach dem Beginn der Hitlerei, eine rechtsextreme Partei in den Parlamenten die Verwandlung der Republik in einen völkischen Nationalstaat betreibt. Es kann und darf nicht sein, dass dort Menschen als „Invasoren“, als „Eindringlinge“ oder „kulturfremde Versorgungsmigranten“ bezeichnet werden. Die Demokratie darf sich nicht in die Hände ihrer Zerstörer begeben. Der Rechtsstaat muss den radikalen Verfassungsfeinden das Recht auf politische Aktivität entziehen.

Es ist höchste Zeit, die Instrumente der wehrhaften Demokratie zu entrosten

Dieser Text ist daher erstens ein Plädoyer für ein Parteiverbot der AfD, beginnend mit einem Verbot dieser Partei in Thüringen und Sachsen-Anhalt; die Landesverbände dieser Partei werden dort vom Verfassungsschutz als kämpferisch verfassungsfeindlich beschrieben. Und zweitens: Es gilt, den führenden Neonazis das aktive und passive Wahlrecht zu nehmen. Sie sollen also nicht mehr wählen und nicht mehr gewählt werden dürfen. Es geht um ein Politikverbot für Björn Höcke, den heimlichen Parteiführer der AfD. Es geht darum, gegen ihn und seinesgleichen ein politisches Aktionsverbot zu verhängen.

Wie das geht, das steht im Grundgesetz in Artikel 18. Es ist der vergessene Artikel unserer Verfassung. Den Müttern und Vätern des Grundgesetzes war dieser Artikel ungeheuer wichtig. Das ist ein Auftrag. Im 75. Jahr des Grundgesetzes soll und muss dieser Auftrag erfüllt werden. Wer die Freiheit der Meinungsäußerung und anderer Grundrechte zum Kampf gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung missbraucht, so heißt es im Artikel 18, verwirkt diese Grundrechte. Diese Verwirkung der politischen Grundrechte ist neben dem Parteiverbot das zweite wichtige Instrument der wehrhaften Demokratie. Es ist höchste Zeit, diese Instrumente zu entrosten.

Ich bin seit über dreißig Jahren politischer Journalist und schreibe seitdem für die Grundrechte; nicht gegen sie. Trotzdem fordere ich eine Grundrechtseinschränkung für die Radikal-AfDler, für Björn Höcke und Co. Denn so gefährliche, so unberechenbar destruktive Zeiten, so einen politischen Galopp nach Rechtsaußen wie jetzt hat die Bundesrepublik in ihren bald 75 Jahren noch nicht erlebt: so viel Nationalismus, so viel Rassismus, so viel Antisemitismus, so viel Neonazismus, so viel Rechtsextremismus.

„Der Weg der neuern Bildung geht / Von Humanität / Durch Nationalität / Zur Bestialität.“ Diesen prophetischen Satz hat der österreichische Schriftsteller und Dramatiker Franz Grillparzer 1849 geschrieben. Genau so ist es passiert. Auf dem Münchner Odeonsplatz, vor der Feldherrnhalle, begann vor hundert Jahren das dritte Stück dieses Schreckenswegs. Hier begann am 9. November 1923 der Marsch in die Bestialität. „Nie wieder“ haben Gesellschaft und Politik seit dem Ende der Naziherrschaft so oft gesagt; „nie wieder“ wurde immer wieder gesagt, wenn vom alten braunen Ungeist geredet wurde. Dieses „Nie wieder“ ist der Inhalt und der Gehalt der deutschen Demokratie.

Der Frieden ist kein natürlicher Zustand. Er muss gestiftet werden

Die nächste Münchner Sicherheitskonferenz in ein paar Monaten müsste eigentlich „Unsicherheitskonferenz“ heißen: Die Welt ist so unsicher wie schon lange nicht mehr. Die Weltordnung zersplittert, die Nationalismen triumphieren. Einige Dutzend Staats- und Regierungschefs und hundert Minister für dies und das werden bei der Münchner Unsicherheitskonferenz Reden halten und Gespräche führen. Vielleicht sollten sie zur Vorbereitung und Besinnung Kant lesen.

Als der berühmte Philosoph Immanuel Kant schon ein recht alter Herr war, schrieb er eine seiner berühmtesten Schriften; sie heißt: „Zum ewigen Frieden“. Es ist dies keine Wolkenkuckucksheim-Postille. Kant lehrt in dieser Schrift aus dem Jahr 1795 etwas sehr Wichtiges, etwas, das schon in der Bergpredigt steht: Der Frieden ist kein natürlicher Zustand. Er muss gestiftet werden. Frieden stiften – genau das ist die Aufgabe von heute. Wer stiftet? Wo sind die Mutigen?

Es geht um äußeren und um inneren Frieden. Um wieder inneren Frieden zu gewinnen, müssen diejenigen, die ihn vergiften, aus dem politischen Geschäft gedrängt, sie müssen politisch ausgeschaltet werden – und zwar mit den Mitteln, die das Grundgesetz bereitstellt, mit den Mitteln der wehrhaften Demokratie. Wann sollen denn diese Instrumente eingesetzt werden, wenn nicht jetzt? Wenn Verfassungsfeindlichkeit konsequent ohne Konsequenzen bleibt, betrachten Verfassungsfeinde den Verfassungsschutzbericht als Ehrenurkunde.

Das Bundesverfassungsgericht muss daher den Neonazis, die in den Parlamenten sitzen, die politischen Grundrechte entziehen. Dem Neonazi Björn Höcke und seinen braunen Gefährten muss die Wählbarkeit aberkannt werden und die Fähigkeit, öffentliche Ämter zu bekleiden. Natürlich verschwinden extremistische Einstellungen mit solchen Verboten nicht. Aber sie brechen ihnen die Spitze. Die Demokratie muss die politischen Freiheiten „denen versagen, die nichts anderes wollen, als mit Hilfe dieser Grundrechte den Geist dieser Verfassung zu benagen oder ihm das Lebenslicht auszublasen“. So hat es in den frühen Tagen der Bundesrepublik Carlo Schmid gesagt, einer der wichtigsten Väter des Grundgesetzes.

Auch bezahlbarer Wohnraum ist ein Beitrag zur Friedenssicherung

Wir leben in einer Zeit von katastrophalen Nachrichten. Aber nicht nur die Katastrophen sind die Katastrophe. Die Katastrophe besteht auch darin, dass es trotz der Katastrophen einfach immer so weitergeht, dass man einfach immer so weitermacht, dass man so tut, als könne man nicht anders, als sei die Zukunft unabwendbares katastrophales Schicksal.

Aber: Zukunft entsteht in jedem Moment der Gegenwart, sie ist darum in jedem Moment veränderbar. Die Zukunft ist nicht vorgeformt, sie wird geformt – sie wird geformt auch mit kleinen und großen Aktionen gegen den Rechtsruck, mit Klagen vor dem Bundesverfassungsgericht – und mit einer Politik, die für soziale Sicherheit sorgt. Das gute und hoffnungsfrohe Wort vom Wohlfahrtsstaat wird heute, selbst von Sozialdemokraten, mit einem abfälligen Unterton gebraucht. Ihr alter Stolz auf die soziale Sicherung und Förderung aller Bürgerinnen und Bürger wird abgelöst von einem raunenden Gerede über „Kriegstüchtigkeit“, um die man sich jetzt erst einmal kümmern müsse.

Ein 100-Milliarden-Sonderprogramm für Militär und Aufrüstung, wie es als Reaktion auf Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine aufgelegt wurde (und das angeblich noch lange nicht ausreichend ist), täte auch den Schulen und den Kindergärten gut. Bezahlbarer Wohnraum, Renten, von denen man leben kann; ein Familiengrundgehalt: All dies wäre ein Beitrag zur Friedenssicherung, zur Sicherung des inneren Friedens nämlich.

Eine wohlfahrtsstaatliche Politik ist ja nicht eine Politik der schmalzigen Reden, sondern eine Politik, die das Gefühl und die Realität von sozialer Wärme erzeugt. Daran fehlt es in Deutschland – und die Hochprozente für die AfD sind die Quittung dafür; die Quittung für eine Politik, der die Schuldenbremse wichtiger ist als die Wohlfahrt der Menschen.

Die Frage ist nicht, welche Zukunft der Staat hat oder erduldet, die Frage ist, welche Zukunft er haben will und wie er darauf hinarbeitet. Die Frage ist nicht, was auf die Gesellschaft zukommt, sondern wohin sie gehen will. Es gilt, die Zukunft nicht den Braunen, den Nationalisten und Klimaleugnern, den Rassisten und Antisemiten zu überlassen. Mit dieser Entscheidung fängt die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft an.


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