Vom Lernen, mit dem Virus zu leben: Das verpflichtet zur Vorsicht, aber nicht zur Schockstarre.
Von Heribert Prantl
Landläufig ist „Prävention“ das Fachwort für die schöne Redensart, dass das Kind gar nicht erst in den Brunnen fallen soll. Diesem Satz und dieser Forderung kann jeder zustimmen. Die Probleme beginnen jenseits dieser Banalität. Welche Mittel dürfen zu diesem Zweck, zur Prävention, eingesetzt werden? Darf man etwa, um im Bild von dem in den Brunnen gefallenen Kind zu bleiben, alle Brunnen versiegeln? Oder darf man alle Kinder zu Hause einsperren? Sie an die Leine legen? Darf man aus Gründen der Prävention auf vermeintliche Straftäter, die noch gar keine sind, noch härter zugreifen als gegen Straftäter – weil die Verhinderung von Straftaten einen höheren und härteren Einsatz rechtfertigt?
Präventive Logik ist expansiv und exzessiv
Das waren die Fragen, um die es ging, als man, vor Corona, von der Verwandlung des Rechtsstaats in einen Präventions- und Sicherheitsstaat sprach. Schon die Erfahrungen der zwei, drei Jahrzehnte vor Corona haben gelehrt: Präventive Logik ist, wenn es um innere Sicherheit geht, expansiv. Deshalb werden ja seit geraumer Zeit, zum Beispiel, die Telekommunikationsdaten jedes Telefon- und Internetnutzers für den staatlichen Zugriff gespeichert. Wer vorbeugen will, weiß nie genug.
Deshalb will der Staat, schon lange vor Corona, im Namen der Sicherheit, zur Vorbeugung gegen Terror und Verbrechen, immer mehr in Erfahrung bringen – um möglichst schon am Tatort zu sein, bevor der Täter da ist; um einzugreifen, bevor aus dem Gedanken die Tat geworden ist; um Taten zu verhindern, statt sie zu bestrafen; um nicht mehr nachträglich, sondern vorbeugend büßen zu lassen – nicht mehr für die geschehene, sondern für die so verhinderte Tat.
Was bleibt von der Pandemie in fünfzig Jahren?
Das Wort „Prävention“ hat daher, trotz aller Eingriffstiefe, einen guten, ja einen wunderbaren Klang. Prävention hat eine schier selbstlegitimierende Kraft. In der Corona-Zeit fanden die Präventions- und Sicherheitsgesetze nicht nur ihre begrüßte Fortsetzung, sondern ihre willkommene Potenzierung. Jede einzelne der vielen Verbots- und Kontrollregeln hätte in früheren Zeiten zu Aufständen geführt. In der Corona-Zeit wurden sie lange überwiegend akzeptiert und begrüßt, ja es wurden sogar noch Verschärfungen gefordert, weil man sich davon Sicherheit und Gesundheit versprach. Der israelische Historiker Yuval Noah Harari meint daher: In fünfzig Jahren werden sich die Menschen gar nicht so sehr an die Pandemie erinnern; stattdessen werden sie im schlimmsten Fall sagen, dass in den Jahren 2020/21 mithilfe der Digitalisierung die allgegenwärtige Überwachung durch den Staat begann.
Irgendetwas, irgendwann, irgendwo, irgendwie
Es könnte vielleicht irgendetwas irgendwann irgendwo irgendwie passieren – und das muss verhindert werden. Das ist der Präventionsexzess. Thorsten Kingreen, Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Gesundheitsrecht und Sozialrecht an der Universität Regensburg, hat dazu soeben im „Verfassungsblog“, auf der famosen Webseite für verfassungsrechtliche und rechtspolitische Themen, einen klugen Aufsatz geschrieben: „Dass vielleicht irgendetwas irgendwann irgendwo irgendwie passieren kann“, reicht nicht, um schwerwiegende Grundrechtseingriffe zu rechtfertigen.
Kingreen bezieht sich in seinem Aufsatz auf die Impfpflicht, wie sie von der Regierung Scholz immer noch geplant ist – und von der er zu Recht meint, dass es zu deren Rechtfertigung „doch ein paar Unsicherheiten und Ungereimtheiten zu viel gibt“. Dem Gesetzentwurf für eine allgemeine Impfpflicht ab einem Alter von 18 Jahren, den sieben Ampel-Abgeordnete vorgelegt haben, wirft Kingreen daher vor, dass er durchweg „alles Unsichere als wahrscheinlich unterstellt“. Andererseits meint Kingreen: „Wer die Impfpflicht ein für alle Mal ausschließt, riskiert auch den nächsten Lockdown und mit ihm neue Freiheitseinschränkungen.“ Er neigt deshalb einem Impfvorsorgegesetz für über Fünfzigjährige zu – einem Vorschlag der CDU/CSU-Fraktion. Eine allgemeine Impfpflicht ab 18 lehnt er ab, weil sie „ziemlich viel Schaden anrichten und nur einen unsicheren Nutzen stiften könnte“.
Das Blaulicht wieder abschrauben
Corona war ansteckend, Corona ist ansteckend; die Angst vor Corona war und ist aber auch ansteckend. Nicht nur Corona, auch die Angst vor Corona und die Reaktionen auf Corona entwickelten und entwickeln immer neue Varianten. Es darf nicht so weit kommen, dass aus Angst vor möglichen künftigen Gefahren Infektionsschutzmaßnahmen aus den hochgefährlichen Zeiten der Pandemie vorbeugend einfach bestehen bleiben.
In der Endphase der Corona-Krise müssen Politik und Gesellschaft das Maß wieder lernen. Es geht nicht mehr an, dass beim Wort Corona Grundrechte einfach zur Seite springen müssen. Die Corona-Politik muss das Blaulicht wieder abschrauben. Und die Gesellschaft muss mit dem Virus leben lernen. Das verpflichtet zur Vorsicht, aber nicht zur Schockstarre.