Nach uns die Sintflut? Das rabiate Vorgehen der Strafverfolger gegen die „Letzte Generation“ ist unverhältnismäßig und töricht. Es demonstriert die Abhängigkeit der Staatsanwaltschaft von der Politik.

Von Heribert Prantl

Nehmen wir an, die Aktivistinnen und Aktivisten der „Letzten Generation“ hießen nicht Henning Jeschke, Lina Eichler, Anja Windl, Carla Hinrichs und Miriam Meyer. Nehmen wir an, sie hießen Tevita Bola, Cicilia Motu, George Nacewa, Neekhil Prasad, Krishneil Narayan oder Joseph-Zane Sikulu. Es handelt sich bei den Letztgenannten nicht um protestierende junge Leute aus Deutschland, sondern um junge Leute, die auf einem der Inselstaaten im Südpazifik aufgewachsen sind – auf den Fidschi-Inseln, auf Tonga und Samoa, auf einem der kleinen Atolle. Nehmen wir an, der Pazifik hat ihre Heimat gefressen, weil der Meeresspiegel, des Klimawandels wegen, angestiegen ist. Nehmen wir an, Tevita & Co. sind dann nicht, wie manche ihrer Freundinnen und Freunde, auf einer der Nachbarinseln untergekommen, sondern es hat sie als Klimaflüchtlinge nach Deutschland verschlagen. Sie wollen nun die Menschen hier aufrütteln – und warnen davor, was nach den Inseln in der Südsee auch den Inseln in der Nordsee droht und die Menschen dort erwartet: Heimatverlust.

Vielleicht war es auch ein wenig anders: Tevita Bola, Neekhil Prasad und die anderen waren als Gäste eingeladen zu einer der vielen Klimakonferenzen in Europa. Sie haben die Politikerinnen und Politiker dort reden und reden und reden gehört – und es dann nicht mehr ausgehalten: Jetzt sitzen sie als Botschafter der Katastrophe auf der Straße, sie kleben sich dort fest, sie halten Anfeindungen aus und sammeln Spenden als „Letzte Generation“. Würde die Staatsanwaltschaft auch gegen sie so rabiat vorgehen wie gegen Jeschke, Hinrichs und Co.? Wenn wir darauf mit „Nein“ antworten, ist das ein Indiz für die Rechtswidrigkeit der Razzien. Das Ziel der Demonstranten im globalen Norden wie im globalen Süden ist es, die Klimakatastrophe zu stoppen.

Strafwütige Strafverfolger

Dies auszublenden, ist unjuristisch. Man darf nicht einfach, wie es die Münchner Generalstaatsanwaltschaft tut, missbilligend und strafwütig davon ausgehen, es sei das relevante Ziel der Aktivisten, unbeteiligte Dritte zum Werkzeug ihrer Meinungskundgebung zu degradieren. Auch die Staatsanwaltschaft muss von der Zielsetzung der Demonstranten ausgehen, die Katastrophe zu verhindern. Das gehört zur Prüfung der Verhältnismäßigkeit, wenn man den demonstrierenden Straßenklebern strafbare Nötigung vorwerfen will. Strafverfolger, die das außer Acht lassen oder geringschätzen, handeln selbst unverhältnismäßig. Kurz gesagt: Es ist ein gewaltiger Irrtum, den Straßenklebern pauschal Gewalttätigkeit zu attestieren.

Sollten die Strafverfolger in Einzelfällen trotzdem von der Strafbarkeit der Aktionen überzeugt sein, ist das Anliegen der Klimaaktivisten bei der Strafzumessung zu berücksichtigen. Sie treten an gegen den törichten Satz „Nach uns die Sintflut“. Weil es ihnen darum geht, die Überlebensbedingungen von Mensch und Tier auf der Erde zu sichern, darf eine Freiheitsstrafe für das Festkleben nicht besonders hoch ausfallen. Es ist maßlos, die Aktivisten gleichwohl schon vorab mit rabiaten Maßnahmen zu traktieren – Razzien, Beschlagnahmen bis hin zur Kontosperrung und zu Warnungen an Spender, sie könnten wegen Beihilfe verfolgt werden. Das sind politische Maßnahmen im juristischen Mäntelchen.

Andreas Voßkuhle, er war Präsident des Bundesverfassungsgerichts von 2010 bis 2020, hat soeben in der Rheinischen Post die Klimaklebe-Bewegung in die Protestgeschichte der Bundesrepublik eingeordnet: Im Vergleich mit Aktionen der Anti-Atom-Bewegung oder der Hausbesetzerszene „veranstalten die Straßenkleber heute harmlose Sandkastenspiele“, sagte er. Voßkuhle warb dafür, die Kirche im Dorf zu lassen: Im Zeitalter der Globalisierung und Digitalisierung sei alles „unübersichtlicher, komplexer und schneller geworden“, erklärte er: „Man muss lauter werden, um sich in dem damit verbundenen Klangbild durchsetzen zu können.“ Das ist eine Beschreibung der gesellschaftlichen Situation, aber keine Aufforderung an Staatsanwaltschaft und Polizei, sich als Lautsprecher der Politik zu betätigen. Staatsanwaltschaft und Polizei gehören nicht zu denen, die sich im Klangbild durchsetzen müssen. Sie gehören zu denen, die unabhängig von Stimmungen, Aufregungen und Hysterien Recht und Gesetz durchsetzen sollen.

Die Staatsanwaltschaft sagt von sich selber gern, sie sei die objektivste Behörde der Welt. Aber fast jeder weiß, dass das nicht stimmt. Die deutschen Staatsanwälte sind, anders als die Richter, nicht unabhängig. Sie sind politisch weisungsgebunden. Dieses politische Weisungsrecht gehört zu den Geburtsfehlern der deutschen Staatsanwaltschaft. Sie verdankt ihr Leben „dem Bedürfnis der Regierung, sich jederzeit Einfluss auf die Strafrechtspflege zu sichern“. So schrieb es die Juristenzeitung zur Weimarer Zeit; und so ist es, leider, bis heute.

Das Sprüchlein von der objektivsten Behörde ist Autosuggestion. Unabhängig wäre die deutsche Staatsanwaltschaft gern; aber sie ist es nicht. Die Staatsanwälte sind Zwitter: Sie selbst halten sich, weil sie bei und in den Gerichten arbeiten, für einen Teil der Judikative; das Gesetz aber schlägt sie der Exekutive zu. Das heißt: Mit den unabhängigen Richtern haben sie nur ihr Gewand gemein; sie tragen die gleiche Robe – darunter steckt aber ein normaler Beamter: abhängig und weisungsgebunden.

Deutsche Staatsanwälte – am Zügel der Politik

Das ist die Crux der deutschen Staatsanwaltschaft: In den Verfahren, in denen Politik eine Rolle spielt oder die für die politische Profilierung wichtig sein könnten, ist sie gefesselt und gegängelt, wird sie gelenkt und geleitet. Ihr oberster Chef ist nämlich ein Politiker oder eine Politikerin, der Landesjustizminister oder die Landesjustizministerin. Der oder die sitzt in einer Landesregierung, und die wiederum wird von bestimmten Parteien gestellt, und diese Parteien haben Interessen – und wer glaubt, dass sie diese nicht geltend machen, der lebt auf dem Mond. Gemessen an der Gesamtzahl der Ermittlungsverfahren mag die unmittelbare Einflussnahme selten vorkommen; aber gerade auf diese Fälle kommt es an. Sie ziehen sich durch die Geschichte der Republik – Strauß, Kohl, Wulff, Gysi, Edathy; auch die Razzia im Ministerium des damaligen Bundesfinanzministers und SPD-Kanzlerkandidaten Olaf Scholz im September 2021 gehörte dazu.

Wer die Geschichte der Bundesrepublik Revue passieren lässt, der stellt fest, dass es, wenn eine Sache nach Politik riecht, drei Grundmuster staatlichen Verhaltens gibt. Erstens: Ermittlungen, die dringend geboten wären, finden nicht statt; ein Beispiel dafür sind viele Strauß-Skandale. Zweitens: Ermittlungen, die geboten wären, werden zwar eingeleitet, aber dann mit seltsamen Methoden abgewürgt; dazu zählt das Verfahren gegen Helmut Kohl wegen Untreue, das mit einer Einstellung gegen Geldauflage endete. Die dritte Variante fragwürdigen Ermittlungsverhaltens beschreibt ganz aktuell der Fall „Letzte Generation“: Es werden rabiate Verfolgungsaktionen durchgeführt, die juristisch nicht geboten, sehr wohl aber von der zuständigen Landesregierung politisch erwünscht sind. Die CSU hat sehr massiv strafrechtliche Maßnahmen verlangt. Und voilà – wie bestellt, so geliefert.

Ein Verdacht, der dem Rechtsstaat nicht guttut

Das alte Bild von der Staatsanwaltschaft als „Kavallerie der Justiz“ beschreibt die Gesetzeslage gar nicht schlecht: Pferde liegen am Zügel, Staatsanwälte auch. Sie sind doppelt weisungsgebunden; extern an die Weisungen der Senatorin oder des Ministers, intern an die Weisungen des vorgesetzten Staatsanwalts. Der Europäische Gerichtshof in Luxemburg hat zwar vor genau vier Jahren in einem Hammer-Urteil die deutsche Staatsanwaltschaft und den deutschen Gesetzgeber hart, richtig und zukunftsweisend kritisiert: Die Staatsanwaltschaft in Deutschland sei nicht ausreichend unabhängig von der Politik, so wie vom europäischen Recht vorgeschrieben. Die EU-Richter haben es daher der deutschen Staatsanwaltschaft verboten, EU-Haftbefehle auszustellen. Was ist seit diesem Hammer-Urteil passiert? Wenig. Ein paar Vorstöße zu einer einschlägigen Änderung des Gerichtsverfassungsgesetzes hat es gegeben. Sie waren nicht erfolgreich.

Die überbordenden Strafaktionen gegen die „Letzte Generation“ haben den jungen Klimaschützern wehgetan. Massiv geschadet aber haben sie den Strafverfolgern. Sie stehen im Verdacht, politische Handlanger zu sein. Das ist ein Verdacht, der dem Rechtsstaat nicht guttut. Schon der böse Anschein muss vermieden werden. Es wäre gut, wenn die Strafaktionen gegen die „Letzte Generation“ die letzten Aktionen auf der Basis einer rechtsstaatsunwürdigen Gesetzeslage wären: Die politische Abhängigkeit der Staatsanwaltschaft muss beendet werden.

 


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