Putin bedroht die EU von außen, von innen drohen die neuen alten Nationalisten. Braucht der Kontinent in bitterer Zeit nicht auch Visionen? Fragen zum Ukraine-Krieg und Gedanken nach der Europawahl.
Von Heribert Prantl
Das junge alte Europa ist bedroht wie noch nie in seiner noch kurzen Geschichte. Es wird bedroht vom Wahn von außen und von innen. Es wird bedroht von Putins Krieg gegen die Ukraine; das ist der Wahn von außen. Und der Wahn von innen – das sind die neuen alten Nationalismen, die aus dem neuen Europa wieder das alte machen wollen. Die Gewinner der Europawahlen, die nationalistischen Kräfte Europas, betrachten Europa als parzellierte Landkarte und stecken in die Felder ihre Fahnen und Namensschilder. Die Zukunft Europas wird auch davon abhängen, ob es der bei den Europawahlen kleiner gewordenen Mehrheit der europäischen Kräfte in der EU gelingen wird, die Le Pens und Melonis zu europäisieren.
Lange ist über eine schlechte Wahlbeteiligung bei den Europawahlen geklagt worden. Die Wahlbeteiligung ist nun, zum zweiten Mal hintereinander, wieder gestiegen. Das macht Hoffnung; das könnte heißen, dass es, trotz aller Kritik, trotz aller Klage, trotz aller Defizite und Fehler noch immer Lust auf Europa gibt. Und „alle Lust will Ewigkeit“, heißt es in Nietzsches „Zarathustra“. Aber das ist ein Spruch, den man auch auf Grabsteinen findet.
Das kleine Glücksgefühl des Alltags
Also doch Abschied von Europa? Abschied vom europäischen Traum – weil es die resoluten und zupackenden Träumer nicht mehr gibt, Leute wie Helmut Kohl, der ein pfälzisch-europäischer Berserker war. Helmut Kohl ist heute vor sieben Jahren gestorben; vor gut 25 Jahren ist seine Zeit als deutscher Bundeskanzler und als europäischer Christophorus zu Ende gegangen. Die große europäische Euphorie, der er verbreiten konnte, gibt es nicht mehr. Aber es gibt das kleine Glücksgefühl des Alltags, es gibt die große Selbstverständlichkeit, mit der die Menschen, die Jungen zumal, sich in diesem Europa bewegen.
Dieses Europa hat so viele Mütter und Väter, so viele Dichter und Denker, die es geprägt haben: Perikles und Paulus, Calderon und Caravaggio, Erasmus und Luther; Franz von Assisi, Theresa von Avila und Hildegard von Bingen; Mozart und Marx; Dante, Dostojewski und Simone de Beauvoir; Leonardo da Vinci, Richard Löwenherz und Hannah Arendt. Der europäische Staat, so er noch entsteht, kommt also nicht aus dem Nichts, er kommt aus der Fülle; er ist, er wäre der Höhepunkt der europäischen Geschichte. „Machten wir eine Bilanz unseres geistigen Besitzes auf, so würde sich herausstellen, dass das meiste davon nicht unserem jeweiligen Vaterland, sondern dem gemeinsamen europäischen Fundus entstammt. Vier Fünftel unserer inneren Habe sind europäisches Gemeingut“ – so hat das der spanische Philosoph José Ortega y Gasset beschrieben. Das Europaparlament arbeitet auf diesem Fundament.
Das europäische Haus ist keine Reihenhaussiedlung
Das Europaparlament muss weiterbauen am Haus Europa. Die schöne Metapher vom Haus Europa ist freilich in den Zeiten des Ukraine-Kriegs nicht mehr sehr gängig und nicht mehr erwünscht, weil es sich schlecht leugnen lässt, dass Russland unabhängig von Putins Regime ein Teil des Kontinents und damit ein Teil Europas ist. Die Haus-Metapher war zu Zeiten von Michail Gorbatschow beliebt und ist jetzt am Zerbröckeln. Das Haus Europa war nicht nur Gorbatschows Traum: Es war der Traum von so vielen, in Deutschland nicht nur von Kohl, sondern auch von Richard von Weizsäcker und Willy Brandt. Die Metapher lehrte und lehrt: Das europäische Haus ist keine Reihenhaussiedlung. Es ist ein Haus mit vielen Räumen, vielen Türen, vielen Kulturen und vielen Arten von Menschen. Dieses Haus bewahrt, wenn es gut geht, die europäische Vielfalt und den Reichtum, der sich aus dieser Vielfalt ergibt.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat im Oktober 2022 in seiner damaligen Rede zur Lage der Nation erklärt, dass man angesichts des Ukraine-Krieges „alte Träume“ begraben müsse; er meinte „Gorbatschows Traum vom gemeinsamen Haus Europa“. Ich habe mich damals gefragt, ob man sich diesen Traum, auch wenn es heute ein sehr ferner Traum ist, von einem Putin nehmen lassen darf. Ich frage mich das auch heute: Braucht Europa in bitterer Zeit nicht auch Visionen, nicht auch eine Utopie? Braucht Europa nicht ein – wenn auch ganz fernes – Ziel? Das Nahziel muss der Waffenstillstand in der Ukraine sein.