Der 9. November: Das Datum steht für Himmel, Hölle und Fegefeuer in der deutschen Historie.
Kolumne von Heribert Prantl
Es war die Nacht der Nächte, es war die Schwarz-Rot-Gold-Nacht. Es war die Nacht, die keiner vergisst. Günter Schabowski, der Sprecher des SED-Politbüros, hatte vor den Fernsehkameras etwas verwirrt den Zettel vorgelesen, der die Reisefreiheit für die Bürgerinnen und Bürger der DDR proklamierte. Am Abend dieses Tages öffneten sich die Grenzübergänge – die Mauer war offen. Jeder, der diesen Tag, jeder, der diese Nacht vom 9. auf den 10. November 1989 erlebt hat, weiß, wo er war in diesen Stunden. Der 9. November gehört zu den Tagen, an denen sich die kleine persönliche Geschichte mit der Weltgeschichte verbindet: Der eine feierte an diesem Tag seinen Geburtstag, der andere heiratete oder ließ sich scheiden; der Nächste landete, von einer Fernreise zurückkommend, gerade auf dem Flughafen.
Wer diese Nacht erlebt hat
So erging es mir damals: Am 9. November kam ich von einer dreiwöchigen Tour durch Ägypten zurück, hatte während dieser Zeit keine Nachrichten gehört, Internet gab es noch nicht. Ich flog mit der Egypt Air von Kairo zurück nach München. Die Maschine kreiste am Abend lange über München-Riem (der neue Flughafen München II im Erdinger Moos eröffnete erst 1992) und drehte dann ab, flog weiter – wie es hieß nach Frankfurt. Es entstand Unruhe unter den Passagieren. Was war los? Ein Terroranschlag? Der Pilot erklärte, dass er in München wegen der verschneiten Landebahn nicht habe landen wollen oder können. In Frankfurt kam das Flugzeug dann auf einer Außenlandebahn zum Stehen, man durfte nicht aussteigen; zwei, drei Passagiere gerieten außer sich und trommelten an die Tür.
Zur Beruhigung klappte die Crew die Bildschirme über den Sitzen herunter – und was man da sah, war unwirklich: Menschen, die von Ost- nach Westberlin drängten, die über die Berliner Mauer kletterten, aber gar nicht in Panik, sondern ganz ausgelassen. War das ein Film, ein Fake, war das Science-Fiction? Es war das Erste Deutsche Fernsehen. Es war wie ein surreales Spektakel, eingebettet in ein Flugzeug der Egypt Air. Das Flugzeug hob wieder ab, flog in niedrigster Höhe nach Nürnberg. Warum so niedrig? Ich weiß es bis heute nicht. Das war meine „Nacht der Deutschen Einheit“. Ein paar Wochen später, in der Silvesternacht 1989/90, stand ich unter Hunderttausenden von feiernden Menschen vor dem Brandenburger Tor. Es war ein Rausch, ein erhabener und ausgelassener Rausch; es war ein Traum.
Himmel und Hölle der deutschen Historie
Das Datum 9. November steht für diesen Traumtag, es steht für diese Traumnacht, es steht für den Auftakt zur deutschen Einheit. Dieses Datum steht aber auch für die Albträume der deutschen Geschichte. Es steht für Himmel und Hölle der deutschen Historie. An diesem Tag im Jahr 1848 wurde der deutsche Freiheitskämpfer Robert Blum, ein glühender Demokrat im Frankfurter Paulskirchen-Parlament, vom Militär des Habsburger Kaiserreichs in Wien ermordet. An diesem Tag im Jahr 1918 rief Philipp Scheidemann in Berlin die deutsche Republik aus.
Dieser Tag im Jahr 1938 war der Höhepunkt der Novemberpogrome, als die Nazis systematisch über die Juden herfielen. An diesem Tag im Jahr 1939 war der Versuch des Widerstandskämpfers Georg Elser gescheitert, Adolf Hitler zu töten. An diesem Tag im Jahr 1989 fiel die Mauer in Berlin. Dieser „9. November“ ist, wie der Historiker und Journalist Wolfgang Niess in seinem Buch dieses Titels schreibt, ein Meilenstein in der deutschen Demokratiegeschichte.
Was dürfen wir feiern?
Sollte dieser Tag, der 9. November, zum Nationalfeiertag erklärt werden, an Stelle des 3. Oktobers, dem Tag, an dem die Wiedervereinigung bürokratisch und organisatorisch vollzogen wurde? Oder sollte man das, angesichts der Ambivalenz des Datums, lieber bleiben lassen? Passt es womöglich besser, diesen Tag zum nationalen „Gedenktag“ zu erklären – so wie schon der 27. Januar als „Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus“ und der 17. Juni als „Nationaler Gedenktag des deutschen Volkes“ proklamiert wurden? Wie gesagt: Dieser Tag ist ein Tag zum Nachdenken, ein Denk-Tag. Er fügt sich schillernd und denkwürdig ein in die Trauertage des Monats November. Er steht für hell und dunkel. Er ist das deutsche Datum schlechthin. Er ist ein Feiertag nicht zum Feiern, sondern zum Lernen, wie Demokratie gebaut und wie sie zerstört werden kann.
Es ist ein Tag, der lehrt, dass nicht das Schicksal Geschichte schreibt. Menschen machen das, gut oder schlecht. Wäre Deutschland damals, 1848, das geworden, wofür ein Robert Blum mit Leidenschaft kämpfte, Robert Blum hätte ihr erster Präsident werden können. Er wurde ein Märtyrer der deutschen Demokratie – so wie 91 Jahre später Georg Elser.
Bundespräsident Gustav Heinemann sprach vor einem halben Jahrhundert von Deutschland als „schwierigem Vaterland“. Der 9. November ist das Symbol dafür.