Verbarrikadiert in der Festung Europa: Je mehr eine Zivilisation sich einbunkert, um so weniger hat sie am Ende zu verteidigen.

Von Heribert Prantl

Was lange währt, wird endlich gut. So sagt das Sprichwort. Bei der Asyl- und Flüchtlingspolitik stimmt das nicht, es stimmt das Gegenteil. Die europäische Asyl- und Flüchtlingspolitik wird nicht gut, sondern immer schlechter. Immer mehr Parteien, immer mehr Staaten in der EU propagieren die Abschottung des Kontinents. Als kürzlich der österreichische Kanzler Karl Nehammer den Bau von Zäunen und Mauern forderte, um so Flüchtlinge von Europa fernzuhalten, erntete er nicht Protest und Kopfschütteln, sondern viel verständnisvolles Nicken.

Warum? Die geforderten Zäune und Mauern sind letztlich nur die Visualisierung einer Politik, die schon seit Jahren betrieben wird. Bisher wurden Mauern aus Paragrafen gebaut. Jetzt sollen die richtigen Mauern folgen, nicht mehr nur aus Paragrafen, sondern aus Stahlbeton und Stacheldraht. Die Frage lautet: Bleibt für Menschenrechte, wenn es nicht um die Ukraine geht, kein Raum, keine Zeit, keine Kraft und kein Geld mehr übrig? Die Lasten des Ukraine-Kriegs werden zur Ausrede, um sich aus der Genfer Flüchtlingskonvention zu verabschieden. Dieser Abschied nennt sich im EU-Sprech „Paket mit mobiler und stationärer Infrastruktur“ zur Flüchtlingsabwehr.

Flüchtlingsschutz als Gnadenrecht

Österreichs Regierung, die den Mauerbau jetzt sehr laut fordert, hat diesen Abschied schon vor 25 Jahren propagiert. Im Jahr 1998, Österreich hatte da gerade die EU-Ratspräsidentschaft inne, legte die Regierung in Wien ein „Strategiepapier zur Migrations- und Asylpolitik“ vor, in dem unverblümt gefordert wurde, ein Abkommen zu schreiben, das die Genfer Flüchtlingskonvention aus dem Jahr 1951 „ergänzt, ändert oder ablöst“.

Das österreichische Regierungspapier sah Flüchtlinge und Migranten nicht als Opfer von Terror, Not und Gewalt, sondern vor allem als Gefahr – letztendlich solle deshalb künftig jeder Staat frei und ohne rechtliche Verpflichtungen entscheiden können, welche Flüchtlinge er aufnimmt. Die Schutzgarantie für Flüchtlinge sollte stark abgeschwächt, das Asyl zu einer Art Gnadenrecht werden – ein „politisches Angebot des Gastlandes“.

Von besonderer Rigorosität waren die Überlegungen, wie man Flüchtlinge wieder loswird: Ihre Rücknahme durch die Herkunftsländer sollte „international durchgesetzt werden“, hieß es im Papier, und das wurde dann so erklärt: „Aktive Absicherung der Rückkehrmöglichkeiten notfalls mit den Machtmitteln, die von der Staatengemeinschaft zur Friedenssicherung und Konfliktbeendigung eingesetzt werden“. Im Klartext: Die Rückkehr der Flüchtlinge sollte militärisch begleitet werden. Das alles klang damals einigermaßen irrwitzig. Aber aus Irrwitz wird, wie Wiens Kanzler Nehammer demonstriert, im Lauf der Zeit Realität.

Fluchtburg oder Festung?

Im Jahr 1991, am Anfang meiner Journalistenzeit, habe ich in der Dortmunder Mercatorhalle eine Veranstaltung mit Willy Brandt moderieren dürfen, sie handelte von Migration. Der Titel dieser Tagung war: „Fluchtburg oder Festung Europa“. Brandt sagte in seiner Einführungsrede: „Mit nationalen Alleingängen sind die Probleme der Armutswanderung ebenso wenig zu bewältigen wie mit kurzatmigen EG-weiten Abschottungsmaßnahmen. Vielmehr sollten die EG-Staaten – auch um eine Aushöhlung des Asylrechts zu verhindern – eine gemeinsame Einwanderungspolitik entwerfen. Was auf der Tagesordnung steht, ist die Schaffung einer gesamteuropäischen Einheit, die nationale Engstirnigkeiten überwindet. Kontinentales oder globales Denken zur Problematik von Flucht- und Massenwanderung muss letztlich durch lokales Handeln unter Beweis gestellt werden. Aufnahmebereitschaft und multikulturelles Zusammenleben wollen mühsam erlernt werden – was allerorten schmerzliche Erfahrungen einschließt.“

Vom Leuchtturm zum Teelicht

Die von Brandt damals beschworene Einigkeit in Flüchtlingsfragen besteht aber seit langem vor allem darin, dass die Abriegelung des Kontinents betrieben wird. Europa vollzieht nach, was die Bundesrepublik Deutschland 1993, vor dreißig Jahren also, mit der Änderung des Asylgrundrechts vorexerziert hat – sich für unzuständig erklären. Die Bundesrepublik wollte sich damals, das war der Sinn der neuen Asylgesetze, in der Flüchtlingsfrage die Lage Deutschlands in der Mitte Europas zunutze mache – und die Staaten, die Deutschland wie ein Ring umgeben, zur Auffangzone für Flüchtlinge erklären.

Daher schrieb man den neuen Asylartikel 16 a des Grundgesetzes. Das alte Asylgrundrecht, ein Leuchtturm im Hafen der Verfassung, wurde abgeschaltet und durch ein Teelicht ersetzt. Die Politik glaubte damals, die Flüchtlinge kämen vor allem deshalb, weil es dieses leuchtende Asylgrundrecht gibt. Sie glaubte daher, wenn man das Grundrecht ausschaltet, schaltet man das Flüchtlingsproblem aus. Aber die Not und das Elend vor den Toren Europas waren stärker als das Abwehr-Asylrecht von 1993. Und die Staaten, die Deutschland umgeben, und auf die Deutschland mit dem Dublin-System die Flüchtlinge abwälzte, weigern sich seit langem, Auffangzone zu sein. Deshalb deren Ruf nach Zäunen und Mauern.

Die, die uns brauchen – und die, die wir brauchen

Dreißig Jahre nach der Änderung des Asylgrundrechts gibt es noch immer kein Einwanderungsrecht, das Migranten, Arbeitskräften, abseits des Asyls, einen geregelten Weg nach Deutschland öffnet. Schon damals, zu Beginn der Neunzigerjahre, war über ein solches Einwanderungsgesetz debattiert worden; die Sozialdemokraten waren dafür, die Grünen auch. Und diejenigen, die dafür warben, machten das auf sehr plastische Weise: Asylbewerber, so hieß es, das seien die Leute, „die uns brauchen“. Einwanderer, Arbeitsmigranten, so hieß es, das sind die Leute, „die wir brauchen“.

Jetzt erst, dreißig Jahre nach dem deutschen Abschottungsgesetz, gibt es Eckpunkte für ein Einwanderungsgesetz – das Gesetz soll kommen; vielleicht kommt es, vielleicht kommt es nicht. Um den demographischen Wandel auszugleichen, braucht Deutschland laut Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung 400 000 bis 500 000 Menschen – und das nicht nur einmalig, sondern jedes Jahr. Was es heißt, wenn dieser Bedarf nicht ausgeglichen wird, beginnt jetzt schon spürbar zu werden. Es fehlt hinten und vorn an Arbeitskräften.

Die Abschottungspolitik schreitet voran, sie galoppiert. Die Einwanderungspolitik kommt nicht voran, in Deutschland nicht, in Europa auch nicht. Zwar haben die Staats- und Regierungschefs der EU 1999, bei einer EU-Konferenz im finnischen Tampere, eingeräumt, dass eine Politik des bloßen Einmauerns nicht funktionieren kann. Es wurde das Modell einer Festung mit Zugbrücken propagiert. Die Festung wurde und wird ausgebaut. Die Zugbrücken aber, so sie überhaupt existieren, verrotten.

Es wird, wenn es um europäische Hilfe für die Ukraine im Putin-Krieg geht, viel von der Verteidigung der europäischen Werte gesprochen. Aber: Damit verträgt sich die Einmauerei nicht. Je mehr eine Zivilisation sich einmauert, umso weniger hat sie am Ende zu verteidigen.


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