Was die Kandidatur von Cem Özdemir als Ministerpräsident für Baden-Württemberg bedeuten könnte: einen Schub für die Integration.
Von Heribert Prant
Die erste Deutsche Einheit begann 1949 mit der Integration der Flüchtlinge und der Vertriebenen nach dem Zweiten Weltkrieg. Die zweite Deutsche Einheit begann 1989 mit dem Fall der Mauer. Die dritte Deutsche Einheit wurde vor 45 Jahren erstmals skizziert, aber die Skizze wurden kaum zur Kenntnis genommen. Es handelt sich um ein Memorandum, das im September 1978 von Heinz Kühn (SPD) vorgestellt wurde, dem ersten Ausländerbeauftragten der Bundesregierung und früheren Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen. Es hieß: „Stand und Weiterentwicklung der Integration der ausländischen Arbeitnehmer und ihrer Familien in der Bundesrepublik Deutschland“.
Thema des Memorandums war, ohne dass sie so genannt wurde, die dritte Deutsche Einheit – also die Integration der Millionen migrantischen Menschen. Die zentrale Feststellung lautete, dass Deutschland faktisch ein Einwanderungsland sei. Dieses Memorandum war seiner Zeit weit voraus, es empfahl eine Vielzahl Integrationsmaßnahmen, stieß aber erst einmal auf taube Ohren.
Mehr als die Addition von Dönerbuden
Wäre der Umsatz der ausländischen Gaststätten ein Gradmesser für die Integration: Es kämen Spitzenwerte heraus. Aber Integration ist sehr viel mehr als die Addition von Dönerbunden. Und nur im Strafrecht gilt der Satz, dass die Insichnahme die intensivste Form der Ansichnahme ist. Würde dieser Satz auch für eine Einwanderungsgesellschaft gelten, wäre die schon viel weiter. Statt über intensivere Integrationsmaßnahmen nachzudenken, proklamierten die Bundesregierungen in den Achtzigerjahren erst einmal den Anwerbestopp und produzierten Rückkehrförderungsgesetze.
Das ist lange her, hatte aber langen negativen Nachhall. Cem Özdemir von den Grünen war dann einer von denen, die trotz alledem zeigten, dass man nicht nur in die Parlamente, sondern auch in hohe Regierungsämter kommen kann, wenn man keinen klassisch deutschen Namen hat. Der heutigen Bundesminister für Landwirtschaft und Ernährung war das erste Gastarbeiterkind im Deutschen Bundestag; das war 1994, damals war er 28 Jahre alt. Jetzt will er Ministerpräsident von Baden-Württemberg werden, Nachfolger seines grünen Parteikollegen Winfried Kretschmann (76).
Eine Botschaft an Millionen Migranten
Soeben hat Özdemir, inzwischen 58, seine Kandidatur bekannt gegeben – kurz vor seinem Bundestagsjubiläum also: Vor ziemlich genau drei Jahrzehnten saß der „anatolische Schwabe“, wie er sich selbst gern nennt, erstmals als frischgebackener Abgeordneter in der Eröffnungssitzung der 13. Wahlperiode im Bundestag. In seiner Partei warf man ihm bisweilen vor, keine Botschaft zu haben. Aber er selber ist eine Art Botschaft – eine Botschaft an Millionen Menschen in Deutschland mit Migrationshintergrund. Sie lautet: Wir gehören dazu, wir mischen mit, auch ganz oben.
Özdemir wurde 1965 im schwäbischen Bad Urach als Sohn türkischer Gastarbeiter geboren, sein Vater Abdullah stammte aus einem anatolischen Dorf in der Nähe der Stadt Tokat, er arbeitete in Deutschland in einer Feuerlöscherfabrik; seine Mutter stammte aus Istanbul, sie betrieb eine Änderungsschneiderei, zuvor hatte sie in einer Papierfabrik gearbeitet. Als der Lehrer seinerzeit in der Schule fragte, wer denn ins Gymnasium wolle, und Cem den Finger hob, brach der Pädagoge in Gelächter aus; so war das noch vor ein paar Jahrzehnten in Deutschland.
Zehn Jahre vor seinem Einzug in den Bundestag hat dann Özdemir die deutsche Staatsbürgerschaft erworben und eine Diplomarbeit über die „Selbstfindungsprozesse der Nichtdeutschen der zweiten Generation in Deutschland“ geschrieben. Sein eigener Selbstfindungsprozess bei den Grünen sah und sieht so aus, dass er sich zu den konservativen Realos zählt. Und wahrscheinlich ist es ein Zeichen von eigener Integration, wenn man als Gastarbeiterkind eine harte Asylpolitik fordert, wie Özdemir es tut.
Ein Schub für die Selbstfindungsprozesse
Zu den liberalen und linken Protagonisten der Partei zählte er nie. Gleichwohl oder gerade deswegen: Die Selbstfindungsprozesse der deutschen Gesellschaft könnten einen Schub erhalten, wenn ein Özdemir Ministerpräsident in Baden-Württemberg würde. Die Landtagswahl ist im Frühjahr 2026, also nach der Bundestagswahl vom Frühherbst 2025. Und Özdemir hofft, dass der Zeitgeist, der seine Partei verlassen hat, bis dahin wieder bei den Grünen eingekehrt sein möge – womöglich sogar als Folge seiner Kandidatur für das Ministerpräsidentenamt. „Wir können alles außer Hochdeutsch“ war ein Satz, mit dem Baden-Württemberg bei seiner Selbstvermarktung Furore machte. Baden-Württemberg könnte mit einem Gastarbeiterkind als Ministerpräsident zeigen, dass zu dem „Alles-Können“ auch Integration gehört – und dass „The Länd“, wie man sich neuerdings nennt, das erste Bundesland ist, das den Migrationshintergrund an die Staatsspitze hebt.
„Man kann viel Geld in Technologien stecken, aber alles steht und fällt mit den richtigen Menschen, mit ihrem Elan, ihrem Ideenreichtum und Erfindergeist“ – so hat es der grüne Ministerpräsident Kretschmann formuliert, als er die „The-Länd“-Kampagne vorstellte. Nun will Özdemir ihm nachfolgen. Und wenn er Glück hat, dann sehen die Bewohner des Landes in ihm eine Verkörperung des Elans, des Ideenreichtums und des Erfindergeists. Auf den ersten grünen Ministerpräsidenten in Deutschland folgte dann ein zweiter, und zwar der erste migrantische Ministerpräsident.
Wann ist die dritte Deutsche Einheit vollendet?
Früher hat Özdemir viel Wert auf Äußerlichkeiten gelegt, auf die beste Internetseite, auf die meisten Autogrammkarten. Das war vor dem Skandal: 2002 wurde bekannt, dass er einen günstigen Privatkredit vom PR-Berater Moritz Hunzinger bezogen und dienstlich geflogene Meilen privat genutzt hatte. Er zog die Konsequenzen, verließ den Bundestag, ging erst einmal mit einem Uni-Stipendium in die USA und dann ins Europa-Parlament. In die Bundespolitik kehrte er zurück als ein Geläuterter, der freilich mit seiner Bescheidenheit und seiner neuen Gelassenheit wunderbar kokettieren konnte. Von 2008 bis 2018 war er einer der grünen Parteivorsitzenden, 2021 errang er für die Grünen erstmals das Direktmandat im Wahlkreis Stuttgart I mit knapp vierzig Prozent der Stimmen; er erreichte damit das beste Erststimmenergebnis unter den Abgeordneten seiner Partei.
Wie muss ein Ministerpräsident sein in einem bodenständigen Land? Er muss ein Gärtner sein, „der erste des Landes / er kennt den Boden und pflegt ihn auf Gedeih und Verderb. Sensationen überlässt er sonst wem / und zieht Arbeit vor.“ So hat einst der Schriftsteller Martin Walser auf Erwin Teufel gedichtet. Dessen Nachfolger Günther Oettinger und Stefan Mappus haben dieses Bild nicht mehr einlösen können. Das war die große Malaise der Südwest-CDU. Winfried Kretschmann, der Grüne, konnte und kann es. Er ist ein besonnen-feinsinniger und genauso langsam sprechender Seelenverwandter von Erwin Teufel. Er war und ist einer, der zum Land passt.
Passt Özdemir auch? Wenn es ihm gelingt, sich, wenn auch auf andere Weise, landestypisch zu präsentieren – dann könnte ihm im Ländle gelingen, was ihm derzeit nicht viele zutrauen. Er wäre ein Exempel dafür, dass die Integration Fortschritte macht. Aber: Die dritte Deutsche Einheit ist auch dann nicht vollendet, wenn ein Politiker aus der migrantischen Generation Ministerpräsident wird. Vollendet ist diese Einheit dann, wenn diese Tatsache keine Rede, keinen Leitartikel und keine Kolumne mehr wert ist.