Eine Laudatio zum 80. Geburtstag von Wolfgang Schäuble, dem erfahrensten Politiker Europas.

Von Heribert Prantl

Einst galt der Preußenkönig Friedrich II., genannt der „Alte Fritz“, als Inbegriff der Pflichterfüllung. Heute ist es Wolfgang Schäuble. Schäuble ist nicht Kanzler, er ist nicht Präsident; aber er ist der Alte Wolfgang, er ist ein Preuße aus Südbaden, der oberste Diener des Staates; seine Haupttugenden heißen Loyalität und Disziplin. Heute wird Wolfgang Schäuble achtzig Jahre alt; und in wenigen Wochen feiert er ein zweites Jubiläum: seine goldene Hochzeit mit dem deutschen Parlament. Er sitzt dann seit fünfzig Jahren im Bundestag.

Niemand seit 1848 war so lang Abgeordneter wie er

Wolfgang Schäuble ist der dienstälteste Abgeordnete im Bundestag, aber nicht nur dort. Seit 1848, seit Beginn der deutschen Parlamentsgeschichte in der Frankfurter Paulskirche, war niemand so lang Abgeordneter wie er. Schon vor fünf Jahren hat der Christdemokrat Schäuble den Ahnherrn der deutschen Sozialdemokratie, den Arbeiterkaiser August Bebel, an Parlaments-Dienstjahren überholt. Vierzehn Mal gewann Schäuble seinen Wahlkreis Offenburg als Direktkandidat. Der Mann, der 1990 Opfer eines Schusswaffen-Attentats wurde und seitdem im Rollstuhl sitzt, ist der erfahrenste Politiker des Landes; er ist wohl auch der erfahrenste Politiker Europas; er gehört zu den erfahrensten Politikern der Welt.

Er war Chef des Bundeskanzleramts unter Kanzler Helmut Kohl, er war zweimal Bundesinnenminister, er war Vorsitzender der CDU, er war Chef der Bundestagsfraktion der CDU/CSU, er war Bundesminister der Finanzen und zuletzt Bundestagspräsident. Jetzt sitzt er wieder als einfacher Abgeordneter im Bundestag, in den er, damals zu Bonn, 1972 erstmals gewählt worden ist. Damals war er der junge Regierungsrat vom Finanzamt in Freiburg; er wurde zum Architekten der Deutschen Einheit. Heute ist er der Großvater der Republik und der Urgroßvater des deutschen Parlamentarismus. Ohne Schäuble würden die täglichen Nachrichten nicht mit „Berlin“ beginnen, sondern mit „Bonn“. Ohne Schäuble wäre Bonn Sitz von Parlament und Regierung auch des wiedervereinigten Deutschlands geblieben.

Der Hin- und Hergerissene

Schäuble hat eindrucksvolle, ja grandiose Reden gehalten. Ich habe ihm gebannt zugehört, als er, es ist 25 Jahre her, auf dem CDU-Parteitag in Leipzig versuchte, die Trübsal der späten Kohl-Ära wegzublasen; siebzig Mal wurde seine Tour d’Horizon von den Delegierten mit Beifall unterbrochen; er erklärte seiner Partei mit Bravour, warum der Schutz der Natur die Uraufgabe einer konservativen Partei sei. Ich war überzeugt: hier spricht der künftige deutsche Regierungschef. Und auf einmal gab es zwei Kanzler: einen offiziellen, namens Kohl, zuständig für die Vergangenheit und deren Verklärung, und einen zweiten, einen Nebenkanzler, zuständig für die Zukunft und deren Realisierung. Damals brannte Schäuble vor Ehrgeiz; die souveräne Gelassenheit, die den alten Schäuble umgibt, war noch weit weg. Er war hin- und hergerissen zwischen der Loyalität zu Kohl und der Erkenntnis, dass man mit ihm die Wahl verlieren wird. Aber er hatte nicht die Kraft, die später Merkel hatte – er hatte nicht die Kraft, mit Kohl zu brechen.

Der Berlin-Macher

Er hatte aber die Kraft, mit einer historischen Rede Berlin zur deutschen Hauptstadt und zum Regierungssitz zu machen. Es war eine Gänsehaut-Rede; man kann sich der Magie dieser Rede vom 20. Juni 1991 auch heute noch nicht entziehen: Schauen wir uns das Videoband an, es ist nur zehn Minuten lang. Aber diese zehn Minuten haben in der erregt geführten Bonn/Berlin-Debatte die Mehrheit für Berlin zuwege gebracht. Da sitzt einer im Rollstuhl vor dem Pult des Bundestags, einer, der aussieht wie das Leiden Christi – und wirbt mit Engelszungen für Berlin. Er ist gezeichnet vom Attentat und sagt, dass es nicht um einen Wettkampf zwischen zwei Städten gehe, sondern in „Wahrheit um die Zukunft Deutschlands“. Die Kolleginnen und Kollegen kennen diesen ausgezehrten, querschnittsgelähmten Mann noch als Tenniscrack, als Skifahrer, als Fußballspieler in der Bundestagsmannschaft. 31 Rollstuhljahre ist die Szene alt. Und selbst in der Nüchternheit des Bundestagsprotokolls spürt man die Erregung des historischen Momentums: „Abgeordnete der CDU/CSU und der SPD erheben sich“, heißt es da, und „Abg. Willy Brandt (SPD) gratuliert Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU).

Ein Sisyphos, der sich selbst bergauf wälzt

Diese Rede war der Beginn des zweiten Lebens von Wolfgang Schäuble, nachdem sein erstes ein Ende gefunden hatte durch die Geco Revolverpatrone Kaliber 38 eines Attentäters. „Nein“, sagte Schäubles Frau Ingeborg drei Jahre nach dem Attentat sehr tapfer auf die Frage, ob ihr gelähmter Mann jemals wieder wird gehen können: „Es gibt keine Wunder.“ Für Außenstehende aber war und ist es Wunder, wie dieser Mann sein Schicksal meisterte und meistert. Vor zehn Jahren, zum siebzigsten Geburtstag, haben ihm seine Freunde eine Festschrift geschrieben. Sie heißt: „Der fröhliche Sisyphos“. Schäuble ist ein Sisyphos, der nicht einen Stein, sondern immer wieder sich selbst bergauf gewälzt hat. Und fröhlich war er dabei nicht immer. Wer jeden Tag die eigene körperliche Schwäche besiegen muss, der erträgt die echten oder vermeintlichen Schwächen seiner Kollegen und Mitarbeiter nicht gut. Aber auch das hat Schäuble im Lauf der Jahre eindrucksvoll gelernt.

Lothar de Maiziere, der erste und zugleich letzte demokratisch gewählte Ministerpräsident der DDR, beschrieb im Geburtstagsbuch zum Siebzigsten seinen Freund Schäuble mit dem Satz, „dass er von niemand mehr verlangt als von sich selbst“. Von sich freilich, als Diener des Staats, verlangt Schäuble alles.

Der Loyalist

Er wollte Bundeskanzler werden; Helmut Kohl hat es verhindert. Er wollte Bundespräsident werden, Angela Merkel hat es verhindert. Schäuble hat sich, das war seine Stärke und seine Schwäche zugleich, an die Loyalitätsdevise gehalten – dass man also ein Amt nicht nutzt, um gegen den zu arbeiten, der einen ins Amt berief. Deshalb hat er Helmut Kohl viel zu lange vertraut, deshalb hat er auch gegen die Kanzlerin Merkel nicht intrigiert. Merkel dagegen hielt sich in entscheidenden Momenten nicht an die Loyalität; deshalb ist sie Kanzlerin geworden und Schäuble aber wurde erst ihr loyaler Innen- und dann ihr Finanzminister.

Er wollte der Architekt eines neuen Europa werden

Ich war politisch nicht oft seiner Meinung; aber vor wenigen Politikern hatte und habe ich so viel Achtung wie vor Wolfgang Schäuble. Als Schäuble zum zweiten Mal Innenminister war und zum brachialen Anti-Terror-Kampf aufrief, habe ich ihn „Minister Dr. Wolfgang Maßlos“ genannt – weil er sich in Überlegungen verirrte, ob man Terroristen nicht gezielt töten solle. Wahrscheinlich habe ich ihn nicht immer maßvoll kritisiert, weil ich ihn damals nicht als Innenminister, sondern als Angstmach-Minister erlebte. Gleichzeitig rief er aber auch die Islamkonferenz ins Leben, um die Integration der Muslime in Deutschland zu verbessern. Schäuble wollte die Bundeswehr als Notpolizei bei Gefährdung der inneren Sicherheit einsetzen. Als Oppositionschef im Bundestag konnte er gar nicht genug von nationaler Identität und von Leitkultur reden, er trug 1999 die wilde Kampagne gegen die doppelte Staatsbürgerschaft mit. Aber dann stellte er als Innenminister auch die Weichen für eine neue, bessere Ausländerpolitik.

Schäuble ist ein überzeugter, ein glühender Europäer. Gleichwohl wäre die Europäische Union an ihm und an der Art und Weise, wie er in der Finanzkrise agierte, wie er Griechenland kujonierte und demütigte, fast zerbrochen. Er nahm damals in Kauf, als Nationalist wahrgenommen zu werden. Er tat es, weil er ein diszipliniertes Europa will, ein Europa, das sich an Regeln hält, das die Vorgaben aus Brüssel achtet. Er, der Architekt der Deutschen Einheit, wollte nun der Architekt Europas werden. Die große Krise war für ihn die große Chance, dem Ziel näherzukommen. Er hätte Griechenland und Europa beinahe dabei ruiniert.

Das Schäuble-Lamers-Papier

„Der Entwicklungsmodus für Großprojekte sind Krisen“, so erklärte mir damals Karl Lamers, der geniale Außenpolitiker der CDU, der Ende August 86-jährig gestorben ist. „Seine Sorge und seine Arbeitskraft galten Europa“, steht in der Todesanzeige. Lamers war Schäubles langjähriger außenpolitischer Weggefährte. Die beiden hatten einst das Schäuble-Lamers-Papier geschrieben; es war dies ein großes Plädoyer für ein Kerneuropa, das die Integration vorantreibt – und um das sich dann die anderen EU-Staaten eher lose gruppieren. Europa ginge es besser, wenn es so gekommen wäre.

Die Kraft, einem Staat zu dienen

Theo Waigel, der frühere Bundesfinanzminister und CSU-Vorsitzende, hat einmal über Wolfgang Schäuble gesagt: Wer ein so schwieriges Leben meistert, der hat auch die Kraft, einen Staat zu führen. Schäuble hat ihn nicht geführt; er war und bleibt der ewige Minister. Er hat dem Staat gedient, er tut das immer noch. Er ist der Großvater der Republik.


Newsletter-Teaser

Spread the word. Share this post!