Die Welt ist so unsicher wie lange nicht mehr. In solchen Zeiten hat man die Wahl: Den Kopf hängen lassen, einbunkern, in Zynismus flüchten – oder mutig sein. Aber wie? Über die Kraft der Hoffnung.

Von Heribert Prantl

Bisweilen beschleicht mich das Gefühl, dass die Weltgeschichte den Weltstaubsauger eingeschaltet hat, der die bisherigen Sicherheiten wegsaugt. Und dann frage ich mich: die Weltgeschichte? Wer soll das sein? An den Reglern für die Saugleistung sitzen jedenfalls nicht Demokraten, sondern Autokraten – Putin zuvorderst. Der Corona-Pandemie folgt der Ukraine-Krieg, und die Angst vor einem Atomkrieg ist wiedererwacht. Und über all dem schwelt die Klima-Katastrophe. Die Welt ist so unsicher wie schon lange nicht mehr.

Als der berühmte Philosoph Immanuel Kant schon ein alter Herr war, schrieb er eine Schrift, die „Zum ewigen Frieden“ heißt. Kant lehrt in dieser Schrift aus dem Jahr 1795 etwas sehr Wichtiges, etwas, das schon in der Bergpredigt steht: Dass der Frieden kein natürlicher Zustand ist, sondern dass er gestiftet werden muss. Frieden stiften – genau das ist, genau das wäre die Aufgabe von heute. Wer stiftet? Wo sind die Mutigen? Die Leute, die am Regler für den Weltstaubsauger sitzen, sind es nicht. Sie sind die Friedenszerstörer.

Wir leben in einer Zeit, in der an die Stelle des Glaubens an den Fortschritt der Aufklärung das Gefühl fortschreitender existenzieller Unsicherheit tritt. In solchen Zeiten hat man die Wahl. Man kann sich einbunkern in der kläglichen Erwartung, dass man stirbt, bevor die Katastrophe da ist. Man kann sich in Zynismus flüchten, man kann den guten Roten vom Spitzenjahrgang lagern und sich ein SUV kaufen. Man kann sich die Ohren zuhalten, damit man nichts mehr hört von Covid-19 oder der Gewalt in Ukraine. Man kann den Kopf hängen lassen und resignieren. Man kann aber auch mutig sein – man kann an eine gute Zukunft glauben und darauf hinarbeiten.

Es gibt eine Schwarzseherei, die jede Zuversicht lächerlich macht, und die sich fast genüsslich darin ergeht, die Schlechtigkeit der Welt auszumalen. „Greueln“ hat das der verstorbene Publizist Sebastian Haffner einmal genannt; Haffners Buch mit „Anmerkungen zu Hitler“ stand in den späten Siebzigerjahren für eine sensationell lange Zeit, nämlich elf Monate lang, auf Platz eins der Spiegel-Bestseller-Liste. Das Greueln fällt in den Zeiten, in denen die Welt an den Putins, Trumps und Erdogans krankt, nicht besonders schwer.

Wenn die Welt zur Hölle wird

Aber selbst wenn es keinen Anlass zum Hoffen gibt, gibt es doch einen Grund dazu: Da, wo man jede Hoffnung fahren lässt, wird die Welt zur Hölle. „Lasst, die ihr eingeht, alle Hoffnung fahren“, steht, so schreibt Dante, in dunkler Farbe auf der Pforte zur Hölle. Hoffnung lässt die Welt nicht zum Teufel gehen. Die Kraft der Hoffnung verweigert dem Unglück und dem Unheil den totalen Zugriff.

Hoffnung kommt nicht dadurch, dass man sie beschwört oder passiv wartet, dass sie sich einstellt. Hoffnung ist eine Praxis. Sie besteht in der Gewissheit, dass etwas Sinn hat, egal wie es ausgeht. Solche phantastische Hoffnung kann die Kraft geben, über den eigenen Schatten zu springen. Glaube kann Berge versetzen. Aber wenn es nicht gut ausgeht? Wenn es kein Happy End gibt? War dann die Hoffnung umsonst? Das Leben ist kein Hollywoodfilm. Es gibt das Scheitern der besten Sache; und es gibt den unaufhaltsamen Fortgang einer Krankheit und eines Elends aller Hoffnung zum Trotz.

Dennoch: Soll eine Mutter in Mariupol aufhören zu hoffen, dass das Bombardement endet? Sollen die letzten Häftlinge auf Guantanamo aufhören zu hoffen, dass auch sie irgendwann freikommen? Soll ein Bewohner der elenden Flüchtlingslager auf einer Insel in der Ägäis aufhören zu hoffen, irgendwann ein Zuhause zu finden? Sollte der Schwerkranke aufhören zu hoffen, Heilung zu erlangen? War die Hoffnung dann dummes Zeug, wenn er nicht freikommt, wenn er kein Zuhause findet, seinen Lebtag keinen Frieden sieht, am Ende doch stirbt? Kaum eine Hoffnung ist je umsonst.

Der Wert der Hoffnung misst sich nicht daran, wie realistisch sie ist, und auch nicht daran, ob sie am Ende von Erfolg gekrönt ist. Nelson Mandela hielt die Hoffnung auf ein anderes Südafrika durch, obwohl wenig dafür sprach in all den Jahren, die er im Gefängnis saß, in denen er alt und älter wurde. Nelson Mandela hat Recht behalten mit seiner Hoffnung. Was wäre, wenn er nicht Recht behalten hätte? Wäre er zuschanden geworden an seiner Hoffnung? Hätte er sich am Ende seines Lebens für sie schämen müssen, weil sie eine Illusion war?

Das Unerträgliche tragen

Semiya Şimşek, die Tochter des Blumenhändlers, den die rechtsextreme NSU-Terrorbande erschossen hat, sagte in einem Interview, sie habe sich all die Jahre gewünscht, „einfach den Tätern gegenübersitzen und in die Augen blicken zu können“. Das schien eine verrückte Hoffnung; aber sie war nicht verrückt, sie hat ihr vielmehr geholfen, nicht verrückt zu werden. Hoffnung hilft, die Dinge nicht nur zu ertragen, sondern zu tragen, auch die eigentlich unerträglichen.

Nicht die Katastrophen sind die Katastrophe. Die wahre Katastrophe besteht darin, wenn es trotz der Katastrophen einfach immer so weitergeht, dass man einfach immer so weitermacht, dass man so tut, als könne man nicht anders, als sei die Zukunft unabwendbares Schicksal. Was hilft da? Es hilft eine Vision. Es geht also, wenn wir über den Mut in bedrohlichen Zeiten reden, um die Rettung des Visionären. Nicht wer Visionen hat, muss zum Arzt gehen. Derjenige wird den Arzt brauchen, der Visionen nicht zulässt und sie bekämpft.

Welche Visionen kennen wir, welche haben wir, welche erleben wir? Europa ist die wunderbarste Vision, die ich in meinem Leben erfahren habe. Es gehört zu den ganz großen und mutigen Taten, dass sich Politiker nach dem Zweiten Weltkrieg an den Bau des Hauses Europa gewagt haben; der Bau ist nicht fortgeschritten in den vergangenen zwanzig Jahren. Vielleicht ist Putins Krieg ein Push für ein Vereinigtes Europa. Vielleicht, hoffentlich, ist er ein Antrieb, vielleicht schafft er das nötige Momentum. Das ist meine Hoffnung. Ich vertraue auf die Kraft der Hoffnung.

Es gibt keine Zukunft, von der man sagen könnte, dass sie einfach auf uns zukommt, dass sie einfach über uns kommt. Die Beschwörung von angeblichen Alternativlosigkeiten angesichts der Globalisierung und angesichts der Radikalisierung der Autokraten haben diesen Fatalismus befördert.

Zukunft ist aber nichts Feststehendes, nichts Festgefügtes, Zukunft kommt nicht einfach – es gibt nur eine Zukunft, die sich jeden Augenblick formt: je nachdem, welchen Weg ein Mensch, welchen Weg eine Gesellschaft wählt, welche Entscheidungen die Menschen und die Staaten treffen, welche Richtung Wirtschaft und Gesellschaft einschlagen. Nicht die Menschen müssen zukunftsfähig werden. Die Zukunft muss menschenfähig und menschenwürdig werden.


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